Hier führen alle Wege zum Kanzler

■ Bei Bismarck im Sachsenwald: Nichts als Heuchelei und Gaukelspiel Von Rainer Schäfer

Endlich, ein freier Tag: Die Sonne scheint, bloß nicht in der Stube hocken. Endlich mal Zeit rauszufahren. Die S-Bahn tingelt Richtung Sachsenwald. Zwei Teenager rauchen laut und hastig Zigaretten, verlangen polternd den Zutritt ins Reich der Erwachsenen. „Nächste Station Friedrichsruuuhh“, dröhnt der Bahnhofslautsprecher. Ruhe, das ist es, ja Ruhe. In Friedrichsruh liegt Bismarck begraben. Fürst Otto von Bismarck, erster Reichskanzler, 1871 bis 1890.

Meine Schritte erkunden Friedrichsruh. Eingeschlossen vom Sachsenwald scheint der kleine Ort nur zu Bismarcks Gedenken zu bestehen. Geduldig harrt er seiner Bestimmung. Sauber ist es hier, friedhofsgleich. Die Menschen schreiten andächtig aus, Kinder gibt es hier nicht öffentlich zu sehen. Die wenigen Straßen führen immer wieder zum Kanzler. Unausweichlich versperrt das Bismarck-Museum dem Besucher den Weg.

Der wohlwollende Herr an der Kasse vermittelt das Gefühl, keine Berührungsangst vor der deutschen Geschichte haben zu müssen. Ein Blick in Bismarcks Schriften. Brief an die Gattin, 2. Juli 1859: „Leb wohl, mein süßes Herz, und lerne des Lebens Unverstand mit Wehmuth genießen, es ist ja nichts auf dieser Erde als Heuchelei und Gaukelspiel, und ob uns das Fieber oder die Kartätsche diese Maske von Fleisch abreißt, fallen muß sie doch über kurz oder lang.“

Polnische und dänische Touristengruppen ringen bemüht mit der deutschen Vergangenheit, ich solidarisiere mich. Seit 1871 hat der Eiserne Kanzler in Friedrichsruh gelebt und ist hier 1898 gestorben, belehrt das Museum. „Im Dienste des Vaterlandes verzehre ich mich“, lese ich. Es ist besser zu gehen.

Der Weg in den Sachsenwald ist verstellt von Bismarcks Gruftkapelle. Preußisch streng ist der Park angelegt, die Natur verhält sich nach Vorschrift.

„Lärmt nicht so,

hier unten liegt

Bismarck irgendwo“,

fordert Theodor Fontane zur Andacht auf. Tatsächlich: Grabesruhe, es riecht modrig in dem kalten Marmorgestein. Kein Leben, die Luft wird dünn. „Wir Deutschen fürchten Gott, sonst nichts auf der Welt“, lautete Bismarcks Maxime. Eine Tafel an der Gruftkapelle dementiert jegliche Auswirkungen der Bismarckschen Hegemonialpolitik auf die Entstehung des „Dritten Reiches“. Hier komme es leider oft zu Irrungen und Verwechslungen, wird den Besuchern versichert. Die Polen und Dänen nähern sich zögernd der Gruft. Warum so zaghaft? Wissen sie denn nicht, daß Bismarck ein guter Deutscher, ein Wohltäter der Nachbarvölker war? Die Tafel am Mausoleum versucht sie davon zu überzeugen.

Brief Bismarcks an die Gattin, 1866: „Meine Liebe, eben von Sir-chow hier angekommen; auf dem Schlachtfelde hierher lag es noch voll von Leichen, Pferden, Waffen. Unsre Siege sind viel größer als wir glaubten; es scheint, daß wir schon jetzt über 15.000 Gefangene haben, und an Todten und Verwundeten wird der östreichische Verlust noch höher, gegen 20.000 Mann angegeben. Zwei ihrer Corps sind ganz zersprengt, einige Regimenter bis zum letzten Mann vernichtet.“

Ich trete hinaus in den Sachsenwald. Der tote Fürst hängt in Gedanken nach, verschleiert den Blick auf die Gegenwart. Unruhig wandert das Auge umher. Die mächtigen Eichen geben sich herrisch, ihre Kronen stehen zu majestätisch, erschlagen die Sinne. Deutsche Geschichte, sächsischer Wald, hier ist keine Ruhe.