Jeden Winter wieder hat man den Eindruck, es werden immer mehr. Aber niemand weiß, wie viele obdachlose Jugendliche es in Deutschland gibt. Die Gemeinden halten Anlaufstellen bereit, an die sich die Treber meist erst wenden, wenn sie ganz am Ende sind. Von Annette Rogalla

Lieber Gruppenkälte als Familienkrieg

Stunde um Stunde kauern sie vor dem Eingang eines Supermarktes. Für jeden, der in das Geschäft hinein will, halten sie die gleiche Frage parat: „Haste mal 'ne Mark?“ Sie drängen sich in die U-Bahn, spulen hastig ihre Lebensgeschichte herunter. Mein Name ist Ralph, ich bin neu hier, habe keine Arbeit, wa, bin nicht versichert, kein Dach über dem Kopf. Bin dankbar für jede Spende, wa. Sie stehen bibbernd unter dem Fernsehturm am Alex, Rotweinflasche in Reichweite. Auf blaugefrorenen Händen suppen eitrige Wunden. Sie sind nicht älter als 18, manche erst zwölf. Ein gewohnter Anblick, vor zehn Jahren gab es sie genauso wie heute. Und doch hat man alle Winter wieder den Eindruck, es werden immer mehr. Arme Kinder, obdachlose Jugendliche.

Ob es mehr werden oder nicht, vermag niemand zu sagen. In Deutschland werden Bäume gezählt, Zahlen über obdachlose Kinder und Jugendliche veröffentlichen die Ämter nicht. Kein Kapitel der Shell-Jugend-Studie wurde über sie verfaßt, der Familienbericht der Bundesregierung kennt sie nicht und der neue Jugendbericht auch nicht. „Da klafft ein großes schwarzes Loch“, gibt die Pressesprecherin der ehemaligen Jugendministerin Angela Merkel zu. Sicher ist jedenfalls, daß die Verarmung, die Schwester der Obdachlosigkeit, zunimmt. Mittlerweile sind mehr als eine Million Kinder und Jugendliche auf Sozialhilfe angewiesen. In den neunziger Jahren müssen fünf Mal so viele Kinder und Jugendliche finanziell vom Staat aufgefangen werden wie in den siebziger Jahren. Besonders betroffen sind Kinder alleinstehender Mütter. Schon redet man von der „Infantilisierung der Armut“.

Seit Jahren tut die sonst so familienbesorgte Regierung nichts Ernsthaftes für Kinder und Jugendliche, die im Elend zu Hause sind. Eine Studie zur Jugendobdachlosigkeit hat Angela Merkel erst kurz vor ihrem Abgang beim Deutschen Jugendinstitut in München in Auftrag gegeben. In vier Jahren darf mit dem Ergebnis gerechnet werden.

Jährlich verlassen etwa 50.000 Kinder ihre Eltern, schätzt der Deutsche Kinderschutzbund. Eine Zahl, auf die Ingrid Geßner vom Berliner Landesjugendamt gelassen reagiert. Acht von zehn Trebegängern, sagt sie, genießen die Freiheit höchstens drei Tage, dann kehren sie zurück. Stimmt die Annahme der Diplom-Sozialpädagogin, würden in Deutschland etwa 4.000 Kinder auf der Straße leben. Experten von der Kinderrechtsorganisation terre des hommes gehen von 20.000 Straßenkindern aus. Die Großstadtsümpfe von Berlin, Frankfurt und Köln bieten ein gutes Terrain für ein Leben auf der Straße. Aber selbst in einer Stadt wie Salzgitter mit 116.000 Einwohnern haben sich 101 junge Menschen unter 25 Jahre obdachlos gemeldet. In Berlin trieben sich in den ersten neun Monaten dieses Jahres gut 3.000 Kinder längere Zeit auf der Straße herum. „Sehr grob, sehr vorsichtig geschätzt“, sagt der Sprecher des Berliner Jugendsenats, Gerrit Schrader.

Hinter jeder Obdachlosigkeit steht eine eigene Geschichte. In vielen spielt familiäre Gewalt eine Rolle, andere sind im Heimmilieu angesiedelt. „Vernachlässigte Beziehungen haben sie alle gemein“, beobachtet Sozialpädagogin Geßner. Seelisch verwahrlost kann das verwöhnte Benetton-Nike-Diesel- Söhnchen ebenso sein wie das Heimmädchen. „Wir brauchen nicht mehr nach Rio de Janeiro zu schauen“, sagt Christa Dammermann von terre des hommes, „auch bei uns leben Kinder unter derartig gewalttätigen Verhältnissen, daß sie für sich selber keine andere Alternative mehr als die Straße sehen.“

Ausreißen ist ein Akt der Selbstbefreiung. Kinder reißen aus, wenn sie glauben, sich selbst am Leben erhalten zu können. Sie distanzieren sich von Eltern und Erziehern, die „nichts mehr taugen“. Auf der Straße tun sie sich meist mit anderen zusammen, auch wenn in der Gruppe unbarmherzige Kälte und Mißgunst herrschen. Sie sind bereit, diesen Widerspruch auszuhalten – die Gruppe schützt vor äußeren Gefahren.

Dabei scheint für diejenigen, die das Leben zu Hause nicht mehr ertragen, alles geregelt. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz schreibt vor, daß ein „Kind in Obhut zu nehmen ist, wenn es darum bittet oder es sein Wohl erfordert“. Städte halten Anlaufpunkte und Jugendwohnungen bereit.

„Jeder Trebegänger, der es will, bekommt ein Dach über dem Kopf“, vermeldet etwa Ingrid Geßner vom Landesjugendamt in Berlin. Das Land Berlin fördert neun Anlaufstellen. Im vergangenen Jahr zählte das Landesjugendamt 9.600 Übernachtungen. Trotzdem sind „Sleep Inn“, „Kindernotdienst“ und „Treberhilfe“ nur für diejenigen Rettungsanker, die sich helfen lassen wollen. Viele Treber ziehen die Parkbank dem Bett in der Treberhilfe vor. Gründe für diese Distanz liegen auf der Hand.

Die Reglements in den Notunterkünften sind streng. Hunde, des Trebers liebste Begleiter, dürfen nicht in die Häuser, Alkohol ist verboten, andere Rauschmittel auch. Wer im Trott der Straße lebt, gewöhnt sich auch nicht daran, pünktlich um zehn abends zu Hause zu sein und morgens um acht aufzustehen. Und was nützen pädagogische Gesprächsrunden mit ständig wechselndem Personal? Die meisten Anlaufstellen bieten außerdem nur kurzfristig ihre Hilfe an. Nach ein paar Tagen müssen die Jugendlichen Sozialhilfe beantragen.

Ein Moment, in dem sich alles entscheidet und den viele scheuen. Die wenigsten sind gemeldet. In Berlin etwa übernimmt der Senat ein, zwei Tage die Lebensunterhaltskosten, dann versorgt er sie mit einem Bahnticket und schickt sie auf die Reise zum zuständigen heimatlichen Jugendamt.

Sogenannte niedrigschwellige Angebote, Anlaufstellen mit Personal ohne Erziehungsgedanken, sind selten. Der evangelische Verein Jugendarbeit Hude in Hamburg ist so eine Ausnahme. Seit sechs Jahren finden dort 16- bis 25jährige Obdachlose einen „Schutzraum“. Jeder kann die Teestube besuchen. Niemand muß bei Hude seinen Namen preisgeben. Wer möchte, redet, wer eine Meldeadresse für die Sozialhilfe wünscht, bekommt eine. Die professionellen Helfer legen keine Akten an, sie verbieten der Polizei das Haus, geben Schlafstatt und waschen bei Bedarf auch die Wäsche. Strikte pädagogische Enthaltsamkeit ist oberstes Prinzip. Und der Grundsatz: Keiner fliegt unter keinen Umständen raus.

Dem Projekt ist in langer Entwicklungszeit Erfolg beschieden. Um ihre letzte Schutzzone nicht zu gefährden, passen Junkies untereinander auf, daß in den Räumen nicht gespritzt oder gedealt wird, Schlägereien sind selten. „Niemand will die letzte Stelle für diejenigen, die woanders rausgeflogen sind, riskieren.“ Marlies Kalde, seit sechs Jahren Sozialarbeiterin bei Hude, ist stolz, daß sie in den vergangenen Jahren 75 Jugendlichen zu einer Wohnung verholfen hat.

„Wer sich auf die Sozialmaschine einstellt, der kommt auch irgendwann rein“, weiß der Trebegänger Marco J. (siehe unten). Oft aber melden sich die Jugendlichen erst bei den Sozialstellen, wenn sie körperlich völlig am Ende sind.

„In den ersten Tagen schlafen viele einfach Tag und Nacht“, sagt Michael Heinisch, Sozialdiakon in Berlin-Lichtenberg. In dem wiederhergerichteten Mietshaus in der Pfarrstraße finden bis zu 13 Jugendliche Platz. Maximal dürfen sie sich ein halbes Jahr hier ausruhen. „Aber viele werden wir nicht mehr los“, weiß Heinisch. Wie auch? Schließlich ist Heinisch kein Wohnungsvermittler.

„Vermieter haben es nicht nötig, jungen Leuten, die ein bißchen unseriös aussehen, einen Mietvertrag zu geben“, bestätigt Irmgard Handzik vom Jugendamt Salzgitter. Nicht nur Schmuddelkinder haben es schwer, zu eigenen vier Wänden zu gelangen. Unumwunden gibt Hermann Borghold, Pressesprecher der städtischen Hamburger Wohnungsgesellschaft Saga, zu, daß „junge Menschen neben Ausländern und Behinderten zur Problemgruppe zählen“. 95.000 Wohnungen sind im Saga- Bestand. Bei den Neuvermietungen des vergangenen Jahres gingen weniger als fünf Prozent aller Neuabschlüsse an junge Mieter zwischen 18 und 25. Wohnen wird erst ab dreißig realisierbar. Vorher hat kaum einer genug Geld.