Amnestie für Kleinstraftaten

■ Bärbel Bohley will zwei Schlußstriche ziehen, einen unter die Ahndung kleiner Straftaten, die von Trägern des DDR-Regimes begangen wurden, und einen unter ihre eigene Organisation, das Neue Forum

Einen Schlußstrich unter die strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechtes hat der SPD-Politiker Egon Bahr gefordert. Das Land Brandenburg arbeitet bereits an einer entsprechenden Gesetzesinitiative. Während Bahr lediglich Mord ahnden will, will die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nur Kleinstraftaten amnestieren. Innerhalb des Neuen Forums wird sie deshalb heftig attackiert. Einige Mitglieder, unter ihnen Reinhard Schult, halten ihr vor, daß ein Schlußstrich „die weiterhin dringende Aufarbeitung der SED-Diktatur behindert“.

taz: Bärbel Bohley, wenn es nach dem Willen des SPD-Politikers Egon Bahr geht, wird rechtzeitig zum fünften Jahrestag der deutschen Einheit ein Schlußstrich unter die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gezogen. Ist die Zeit reif dafür?

Bohley: Natürlich nicht. Darüber darf auch nicht ein Egon Bahr entscheiden. Es muß verurteilt werden, wer sich strafbar gemacht hat. Dann kann man darüber nachdenken, ob und wie man amnestiert. Das sollte jedoch durch Volkes Stimme bestätigt werden.

Wie soll die zu Wort kommen?

Durch eine Volksbefragung oder einen Volksentscheid.

Mißtrauen Sie den Parlamentariern.

Allerdings, einigen schon. Etliche von ihnen sind aus ureigenen Motiven an einer Amnestie interessiert.

Das Institut der Volksabstimmung ist in der Verfassung nicht vorgesehen.

Vielleicht macht man angesichts der Wichtigkeit dieser Frage eine Ausnahme. Wir leisten uns im Politischen sowieso zuwenig Seitensprünge.

Wie würden Sie bei einem solchen Volksentscheid abstimmen?

Ich bin dafür, daß Kleinstraftaten nicht mehr verfolgt und die bereits Verurteilten amnestiert werden.

Die SPD will die Sonderregelung des Rentenrechts für die ehemaligen Stützen des DDR-Systems abschaffen.

Die SPD kümmert sich mal wieder um die falschen Leute. Sie sollte sich um die Leute sorgen, die nur eine minimale Rente beziehen, weil sie in der DDR überhaupt nicht hochgekommen sind. Diejenigen, die sich vor 1989 dafür stark gemacht haben, daß sie mehr verdienen als alle anderen, müssen nicht heute noch dafür belohnt werden.

Sollte auch die Stasi-Überprüfung bei Beschäftigten des öffentlichen Dienstes entfallen?

Ich bin gegen eine Generalisierung. Personen in der Politik oder in wichtigen Ämtern sollten weiterhin überprüft werden. Ich war jedoch immer dagegen, einfache Beschäftigte zu durchleuchten.

Ist die Gesellschaft in den fünf neuen Bundesländern schon reif für einen Strich unter ihre Vergangenheit?

Sie ist noch nicht reif. Aber es ist bereits einiges in Schieflage geraten. Wenn es möglich ist, daß ein Stasi-Belasteter wie Stolpe Ministerpräsident sein kann, muß man darüber nachdenken, wie man mit jemandem umgeht, der lediglich Pförtner bei der Stasi war. Die Debatte darüber, sofern es sie gegeben hat, wurde je nach Parteistandort machtpolitisch ausgeschlachtet.

Die PDS würde eine solche Schlußstrich-Debatte begrüßen.

Das ist mir klar. Die wird nicht nur die PDS begrüßen, sondern auch Herr Stolpe. Immerhin ist es seine Partei, die die Schlußstrich- Diskussion forciert.

Einen Schlußstrich, wenn auch ganz anderer Art, wollen Sie unter Ihre eigene Organisation, das Neue Forum, ziehen.

Das Neue Forum, wie es 1989 bestand, gibt es seit längerem nicht mehr. Daraus muß man Konsequenzen ziehen. In bin weiterhin an einer Bürgerbewegung interessiert. Als die sehe ich aber das Neue Forum nicht mehr an, und ich bezweifle, daß es wieder eine werden kann. Man könnte das Neue Forum beenden und das Geld einem gemeinnützigen Verein spenden, so wie es unsere Satzung vorsieht. Wir diskutieren bereits über die Perspektiven des Neuen Forums. Ich plädiere für eine gesamtdeutsche politische Initiative.

Hat sich denn die spezifisch ostdeutsche Bürgerbewegung, deren Organisation unter anderen das Neue Forum war, überlebt?

Bürgerbewegung und Neues Forum ist für mich heute nicht identisch. Der Gedanke Bürgerbewegung hat sich nicht überlebt, weil er noch nicht voll realisiert wurde. Unsere Schwäche war, ihn auf Ostdeutschland zu begrenzen. Interview: Dieter Rulff