Das Delirium von heute ist die Wahrheit von morgen Von Mathias Bröckers

Im Jahr 1863 wies der Pariser Verleger Pierre-Jules Hetzel ein Manuskript mit dem Titel „Paris im 20. Jahrhundert“ zurück: „Sie haben sich eine unmögliche Aufgabe gesetzt und sind daran gescheitert“, teilte er dem Autor mit, „es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen dies schreiben muß, aber es wäre ein Desaster für Ihren Namen, wenn Sie dieses Buch veröffentlichen.“

Der Name des derart abgewiesenen Autors war Jules Verne, dessen Werk „Fünf Wochen in einem Ballon“ kurz zuvor im selben Verlag erschienen war. Hetzel war der einzige Pariser Verleger gewesen, der das Roman-Manuskript des 35jährigen Autors nicht gleich zurückgeschickt hatte – und er machte sich jetzt Sorgen über die Reputation seines jungen Autors und des eigenen Verlags. Zu Unrecht, wie sich nach über 130 Jahren gezeigt hat. Jules Verne, enttäuscht von der schroffen Ablehnung, verstaute sein Manuskript über das Paris der Zukunft in einer Truhe – wo es erst 1989 von seinem Urgroßenkel entdeckt wurde, als er den Verkauf des Familienhauses in Toulon vorbereitete. Der Roman erschien in diesem Herbst in Frankreich und wurde zum Bestseller.

Was Vernes damaligem Verleger als völlig wirre Phantasterei vorkam, erscheint dem heutigen Leser als sensible und in weiten Teilen völlig realistische Vision. Nicht nur, was die von Verne imaginierte Technik betrifft: neben Autos, Faxgeräten, dem unterirdischen Metro-System und sogar einer Version des Eiffelturms, die Vernes Paris des 20. Jahrhunderts bevölkern, schildert er auch die Neuerungen der sozialen Verhältnisse. Die Gesellschaft, in der sein Held Michel Jérôme Dufrenoy bestehen muß, ist ein gigantischer Marktplatz, auf dem nur Profit und Effizienz zählen, für Kunst und Kultur ist genausowenig Raum wie für Musik und Geist, Universitäten werden wie Aktiengesellschaften geführt und handeln mit Wissen. Finanzdaten und Börsenkurse haben Moral und Bildung im öffentlichen Diskurs abgelöst. Kriege werden nicht mehr Mann gegen Mann geführt, sondern auf entfernten technologischen Schlachtfeldern, und riesige Wälder werden für die Papierherstellung kahlgeschlagen. Dufrenoy, der Liebhaber lateinischer Verse, übersteht seinen Job in der Bank nur dank eines kleinen Zirkels befreundeter Künstler – und indem er nebenbei klassische Stücke auf zeitgenössischen Geschmack umschreibt. Verne sieht hier das Zeitalter der TV-Sitcom voraus – bis ins Detail der gefälschten Publikumslacher vom Tonband. „Niemand heutzutage wird solche Prophezeiungen glauben... Wir sind daran nicht interessiert“, hatte der Verleger handschriftlich auf dem abgelehnten Manuskript vermerkt – was zeigt, wie weit sich die moderne Gesellschaft mittlerweile von dem entfernt hat, was man Mitte des vorigen Jahrhunderts für möglich hielt. Vernes im Rückblick äußerst realistische Vision galt auch dem wohlmeinenden Verleger als völlig wirre Phantasterei. Womit einmal mehr die goldene Regel „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt“ bewiesen wäre. Wer also heute etwas über die Zukunft in Erfahrung bringen will, sollte weniger in etablierten wissenschaftlichen Werken und Sachbüchern blättern, sondern eher in der Science-fiction-Literatur. Am besten in abgelehnten Manuskripten.