Späte Scham der einsamen Freiheit

Fünf Jahre nach der Wende zieht ein slowakischer Revolutionär Bilanz: Das Mißtrauen gegenüber der natürlichen Sehnsucht der Menschen nach individueller Freiheit war berechtigt.  ■ Von Martin M. Šimečka

Es gibt Erinnerungen, die uns wie ein Feuerschiff durchlaufen. Eine Gänsehaut entstehen lassen. Röte ins Gesicht treiben. Und das, obwohl sie vielleicht schon zehn Jahre alt sind. Es sind Erinnerungen an etwas, für das wir uns heute schämen, auch wenn wir damals, als dieses Etwas passierte, kein Gefühl der Scham empfanden. Es ist die Erinnerung an die eigene Dummheit, die einem aber eben erst durch spätere Erfahrungen deutlich wird. Es kann sein, daß ich der einzige Zeuge dieser frühen Dummheit bin, es kann aber auch sein, daß sie ein Teil der historischen Erfahrung der ganzen Nation ist. Ein Beispiel hierfür liefert die Generation meines Vaters, die – im blauen Hemd des kommunistischen Jugendverbands und mit einem Lied auf den Lippen – den Sozialismus aufbaute. Die größte Scham empfinden wir freilich nicht, wenn wir uns an früheres unmoralisches Handeln erinnern. Die größte Scham empfinden wir, wenn wir erkennen, welche naiven Moralvorstellungen wir damals hatten.

Lange habe ich gedacht, daß mir ähnliche Erinnerungen wie meinem Vater erspart bleiben werden. Denn ich wuchs auf in einer Atmosphäre der Geschichtslosigkeit, in der Stimmung des etablierten realsozialistischen Systems der siebziger und achtziger Jahre. Sie lehrten mich Mißtrauen gegenüber der Illusion, daß alle Menschen eine natürliche Sehnsucht nach Freiheit empfinden. Und so überraschten mich beim Zusammenbruch des Regimes im November 1989 vor allem die jubelnden Massen, die Anonymität und Konformismus wie einen abgetragenen Mantel ablegten. Durch diese Begeisterung für die individuelle Freiheit wurde die Verbindung zu den paar Dutzend Intellektuellen hergestellt, die seit langem auf die Revolution hingearbeitet hatten. Es überraschte mich damals das so überzeugende Beispiel, wie leicht und wie billig Freiheit gewonnen werden kann. Es überraschte mich meine eigene Sehnsucht, ein Teil der feiernden Menge zu werden.

Doch schon einige Wochen später zeigten sich die Abgründe dieser Form der Freiheit. Weil es nur wenige Slowaken gab, die sich durch eine grundlegende Opposition zum alten Regime ausweisen konnten, gab es auch nur wenige, die genug Autorität besaßen, um eine nun notwendige neue Hierarchie der Werte zu entwickeln und durchzusetzen. Daher mußte man den Gedanken zulassen, daß eigentlich alle Bürger Gegner und daher auch Opfer des alten Systems gewesen seien. Daß niemand den Anspruch erheben könne, anderen vorzuschreiben, wie die gewonne Freiheit genutzt werden soll.

Und so betraten die Herolde einer anderen Freiheit, die nun das Adjektiv slowakisch zierte, die Bühne. Und tatsächlich gab es niemanden, der deutlich machen konnte, daß die nationale in schroffem Gegensatz zur individuellen Freiheit steht. Es dauerte weitere zwei Jahre bis unter dem Druck der Nationalisten die Tschechoslowakei zerfiel. Und ähnlich wie im November 1989 den Menschen die persönliche Freiheit in den Schoß gefallen war, erhielten sie nun die nationale Freiheit als Weihnachtsgeschenk. Wieder waren keine Opfer notwendig – wenn ich als Opfer das Gefühl der Scham und der Verzweiflung derjenigen nicht rechne, die mit dem Zerfall der tschechoslowakischen Föderation nicht einverstanden waren.

In den fünf Jahren seit der Wende ist in der Slowakei der Begriff der Freiheit fortlaufend degradiert und durch Bezeichnungen wie „nationale Souveränität“, „Unabhängigkeit“ oder „Recht auf Arbeit“ ersetzt worden. Und dennoch wurde bei den Wahlen Ende September diesen Jahres von all denjenigen, die sich durch die Ergebnisse der ökonomischen und politischen Reformen betrogen fühlen, eine weitere Schwelle auf dem Weg zurück überschritten. Es fand sich ein Politiker, der in ihrem Namen auftrat, vom Betrug der Herrschenden sprach und die Rückgabe des eben privatisierten Staatseigentums an die Arbeiter forderte. Ján L'upták wurde über Nacht zum Helden, weil er von den Schultern der Menschen die Last ihrer Scham über ihre nur mühsam verdeckte Sehnsucht nach dem Sozialismus nahm. Er nahm den Menschen die Fesseln des neuen Konformismus ab, demzufolge ihr Ziel Marktwirtschaft, die Europäische Union und die Unverletzlichkeit der Menschenrechte sein sollen. Mit dem Mut, mit dem er sich zur Gleichmacherei und Kollektivismus bekannte, gewann er das Vertrauen der Hälfte der Bürger und wurde zum populärsten Politiker der Slowakei. Und so gelang es der gesamten slowakischen Gesellschaft sich mit dem 5. Jahrestag der Revolution auszusöhnen – und ihn zu vergessen.

Dabei waren es die Kommunisten der oberen Machtetagen, denen die politische Wende am meisten nützte. Denn sie konnten das „Volkseigentum“, an dem sie sich früher als seine Verwalter bereicherten, nun zu ihrem Privateigentum machen. Sie genießen heute die größte Freiheit von uns allen – unter einer Bedingung: Sie dürfen die Revolution des Novembers 1989 nicht hochleben lassen, denn das wäre verdächtig. Doch diese Bedingung zu erfüllen, fällt ihnen nicht schwer, denn nur ungern erinnern sie sich an die wenigen Monate, in denen ihr Schicksal in den Händen der revolutionären Intellektuellen lag.

Schlechter dran sind die Reformkommunisten des Jahres 1968. Für viele von ihnen kam die Wende etwas spät und die Hoffnung, nun an die Schaltstellen der Macht zurückkehren zu können, erfüllte sich nur für wenige. Zudem erinnern sie sich nur ungern daran, daß sie die Rückkehr nicht selbst erkämpften. Daß nicht sie, sondern junge Intellektuelle es waren, die die Tribünen der Marktplätzen beherrschten.

Mit Verbitterung, wenn überhaupt, erinnern sich die gemeinen Kommunisten an die Tage der Revolution. Sie kamen um ihre soziale und gesellschaftliche Position in der früher geltenden Hierarchie. Sie kamen um das angenehm kitzelige Gefühl der Zugehörigkeit zu einer geheimen Elite. Sie kamen um die so wichtigen Rituale der kollektiven Macht. Vor allem aber büßten sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ein, eine Hoffnung, oder besser eine Gewißheit, wegen der sie zu Kommunisten geworden waren. Die Erniedrigung, die sie nach der Novemberrevolution erfahren mußten, haben sie – trotz vielfacher persönlicher Erfolge im neuen System – nicht vergessen. Vielleicht finden sie schon bald den Mut in aller Öffentlichkeit zu sagen, daß der 17. November, der Tag der Revolution, ein schwarzer Tag in der Geschichte der Slowakei war.

Eine andere Gruppe sind die Studenten, die 1989 für einige kurze Wochen die Fahne des Aufstands trugen. Diese jungen Leute sind heute schon lange keine Studenten mehr, und ihre Nachfolger können sich nicht daran erinnern, welche Ziele diese schon zur Geschichte gehörenden Kollegen eigentlich verfolgten. Obwohl die neue Freiheit gerade den Studenten die größten Möglichkeiten brachte, wurde sie so schnell zur Gewohnheit, daß man am 17. November 1994 keinen Anlaß sah, sich der Tage, in der sie gewonnen wurde, zu erinnern.

Ein hoffnungsvoller Adept für eine Revolutionsfeier könnte die Kirche sein oder auch die katholischen Antikommunisten, die unter dem atheistischen Joch am meisten zu leiden hatten. Der November brachte sie jedoch paradoxerweise um die vierzigjährige Hoffnung, die Slowakei werde sich erneut unter die schützende Hand Roms begeben. Und so begann in jenen Tagen der traurige Erkenntnisprozeß, daß die Kirche in einer sekularisierten – oder besser heidnischen – Gesellschaft nur eine marginale Rolle spielt.

Andere, aber ähnlich gute Gründe für eine Unterdrückung der Erinnungen an den November 1989 haben die heutigen Nationalisten. Ihre heiligen Daten sind statt dessen der 1. September 1992, der Tag der Annahme der slowakischen Verfassung, oder der 1. Januar 1993, der erste Tag der Unabhängigkeit der Slowakischen Republik. Es kann zwar als sicher gelten, daß sie ohne den November noch heute den „siegreichen Februar 1948“ und damit die Machtübernahme der Kommunisten feiern würden. Aber gerade deswegen ist es in ihrem Interesse den November als Voraussetzung für ihren späteren Erfolg zu vergessen. Anzuerkennen, daß diejenigen, die sie heute abwertend als „Kosmopoliten“ bezeichen, ihren Aufstieg erst ermöglichten, wäre ebenso absurd wie die Betonung der jüdischen Abstammung des Gottessohnes durch die christliche Gemeinde.

Die Masse der „kleinen Menschen“ schließlich hat überhaupt keinen Grund sich an den 17. November 1989 zu erinnern. Sie haben ganz andere Sorgen als historische Daten.

Am Ende dieser Aufzählung zeigt sich somit, daß es allein jene revolutionären Intellektuellen sind, die in diesen Wochen etwas zu feiern haben. Denn für sie bedeutet der November weiterhin das, was er wirklich war: der Gewinn der Freiheit. Sie haben wirklich Anlaß sich dieses Datums als grundlegenden Wendepunkt in ihrem Leben zu erinnern. Gleichzeitig jedoch scheint es, daß sie diese Freiheit inzwischen mit niemandem mehr teilen können. Und so ruft die Erinnerung an jene Tage, in denen sich die Menschen arglos und nichtsahnend mit den intellektuellen Vorstellungen über die Freiheit identifizierten, die beschriebene Scham hervor. Ich weiß nicht, wie es den anderen geht, aber ich schäme mich mehr dafür, daß ich einige Tage geglaubt habe, daß die Freiheit etwas ist, was man öffentlich teilen kann. Was man gemeinsam und umsonst bekommen kann. Und vor allem, das sie etwas ist, was die natürliche Sehnsucht des größten Teils der Gesellschaft ist. Doch es ist unmoralisch von jemandem zu fordern, er soll frei sein, denn wir würden dadurch das Prinzip der Freiheit selbst verletzen. Ein Prinzip, welches es gestattet, daß man sich auch für die Unfreiheit entscheidet. Diese Fünfjahreslektion war sehr hilfreich, und daher ist es gut, sich zu erinnern.

Der Schriftsteller Martin M. Šimečka lebt in Bratislava. Übersetzung aus dem Tschechischen: her