Krankheitsursache: Tschernobyl

Immer mehr Kinder erkranken im verseuchten Weißrußland an Schilddrüsenkrebs  ■ Von Manfred Kriener

Im strahlenverseuchten Weißrußland sind von 1986 bis Ende 1993 nach Angaben des Zentrums für Schilddrüsentumoren in Minsk 239 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt. Und die Krebsfälle nehmen weiter zu. 75 Kinder sind bisher nach Deutschland geflogen und in der Uniklinik Essen behandelt worden. Eine Studie der Universität Bern hat jetzt nochmals bestätigt, daß dieser besondere Kinderkrebs direkt mit der Katastrophe von Tschernobyl zusammenhängt. Gegenteilige Spekulationen, daß nach der Reaktorexplosion nur die Wachsamkeit zugenommen habe und deshalb – suchet, so werdet ihr finden – verstärkt Krebserkrankungen entdeckt worden seien, könnten den starken Anstieg der Schilddrüsenkarzinome nicht erklären, schreiben die Berner Wissenschaftler. Die Häufigkeit sei ganz offensichtlich eine Folge der Anreicherung von radioaktivem Jod-131 aus dem Fallout in den Schilddrüsen. Mitautor und Sozialmediziner Felix Gurtner: „Für uns ist der Fall klar.“

In den zehn Jahren vor der Atomkatastrophe, von 1976 bis 1985, waren in Weißrußland ganze neun Fälle von Schilddrüsenkrebs gemeldet worden, weniger als ein Fall pro Jahr. Allein im vergangenen Jahr ist dagegen bei 79 Kindern ein bösartiger Tumor festgestellt worden – eine 87fache Erhöhung. Die Schweizer Forscher vermuten, daß in den Jahren vor dem Super-GAU geschlampt und zu wenig Fälle gemeldet wurden. Als Vergleichsmaßstab benutzen sie deshalb internationale Zahlen. Die US-Krebsforschung geht von jährlich 0,19 Fällen bei hunderttausend Kindern aus. Doch selbst im Vergleich mit den US-Zahlen ergibt sich eine dramatische Erhöhung um das 15fache.

Die Krankheitsursache Tschernobyl war von einigen Wissenschaftlern in Frage gestellt worden, weil für Schilddrüsenkrebs eine Latenzzeit von zehn bis fünfzehn Jahren bis zum Ausbruch angenommen wurde. Diese Latenz war etwa bei den Kindern auf den Marshallinseln beobachtet worden, wo die USA ihre Atombombentests machten. In Weißrußland war aber schon 1990, nur vier Jahre nach dem Unglück, ein sprunghafter Anstieg der Erkrankungen registriert worden. Geht man auch hier von einer durchschnittlich zehnjährigen Latenz aus, dann wären die bisher diagnostizierten Tumore nur der „Fuß“ des Krankheitsberges, und die Krebszahlen würden in den nächsten Jahren weiter explodieren – eine erschreckende Vorstellung.

Wie die Schweizer Forscher berichten, sind 61 Prozent der krebskranken Kinder jünger als zehn Jahre, Mädchen sind mit 58 Prozent häufiger betroffen. Der Würzburger Nuklearmediziner Christoph Reiners, der bis vor kurzem noch in Essen die Kinder behandelte, erklärt die besondere Anfälligkeit der kindlichen Schilddrüse: Aufgrund der geringen Größe ist die radioaktive Belastung pro Gramm Gewebe höher. Zudem sei die Schilddrüse im Wachstum extrem empfindlich. Innerhalb von Weißrußland fällt die Stadt Gomel mit mehr als acht Fällen von Schilddrüsenkrebs je hunderttausend Kinder besonders auf. Die Gründe: Gomel wurde von der radioaktiven Wolke stärker verseucht als nördliche Landesteile, die weit geringere Krebsraten aufweisen.

75 weißrussische Kinder wurden bisher im Rahmen des Hilfsprogramms „Wissenschaftler helfen Tschernobyl-Kindern“ in Essen behandelt. Meist hatten Eltern und Hausärzte die Knoten ertastet. Screening-Programme zur Früherkennung kommen nur sehr mühsam in Gang. Nach Einschätzung des Minsker Instituts für Schilddrüsenkarzinome sind die Tumore besonders aggressiv. In 62 Prozent der Fälle waren sie zum Zeitpunkt der Diagnose bereits über das Organ hinausgewachsen. Lungenmetastasen sind nach Schweizer Angaben in 13 Prozent der Fälle vorhanden. Ohne Lungenmetastasen haben die Kinder relativ gute Überlebenschancen. Die zehnjährige Überlebensrate bei Schilddrüsenkrebs liegt „bei 90 Prozent“, so Johannes Biko von der Essener Uniklinik. Eines der insgesamt 239 krebskranken Kinder ist bisher gestorben.

Die eingeflogenen Patienten erhalten in Essen eine tumortötende radioaktive Jod-Dosis, die etwa 200- bis 300mal höher ist als die krebsverursachende Tschernobyl-Dosis. Letztere hat die Zellen geschädigt und entarten lassen. Durch die hohe Strahlung sollen sie ganz abgetötet werden: Tote Zellen sind gute Zellen, heißt ein Lehrsatz der Zellbiologie. Vor dieser Behandlung muß die Schilddrüse aber entfernt werden – die übrigbleibenden Zellen werden dann mit Jod bestrahlt.

Die Schilddrüsen-Operation wird in Weißrußland gemacht. Die dort verfolgte Strategie ist umstritten. In mehreren Fällen, so Sozialmediziner Felix Gurtner, hätten die weißrussischen Ärzte versucht, Teile der Schilddrüse zu erhalten. Hintergrund: Nach einer Totalentfernung müssen die Betroffenen lebenslang Hormone einnehmen. Ihr Hormonstatus muß etwa alle sechs Wochen bestimmt werden. Die operierenden Ärzte befürchten, daß Weißrußland aufgrund der Devisenschwäche und chaotischen Versorgung nicht genügend Schilddrüsenhormone beschaffen kann. Vor allem sind im Lande aber nur zwei Labors in der Lage, den Hormonstatus der Kinder exakt zu bestimmen. Ist der Hormonspiegel nicht optimal eingestellt, wächst das Krebsrisiko.

Inzwischen soll eine zehnjährige Versorgung mit Hormonpräparaten garantiert sein, versichert Nuklearmediziner Reiners. Der Münchner Strahlenforscher und Tschernobyl-Helfer Edmund Lengfelder ist indes weiter besorgt. Er fordert, mit den Hilfsprogrammen aus dem Westen in erster Linie das Gesundheitssystem Weißrußlands vor Ort zu stärken. Die Kinder im Westen zu behandeln sei „der falsche Ansatz“.

Auf lange Sicht will auch Reiners die Behandlung weißrussischen Ärzten überlassen. In Essen wurden inzwischen fünfzehn Mediziner ausgebildet. Die notwendigen Geräte wurden mit EU-Geldern beschafft. Geldgeber (3,5 Millionen Mark) für das Projekt „Wissenschaftler helfen Tschernobyl- Kindern“ sind übrigens die deutschen Energieversorger, die hierzulande selbst zwanzig Atomkraftwerke betreiben.