Abhängen mit Jesus

■ Das Marquee wurde von den Jesus Freaks übernommen

Das Rätselraten um die Zukunft des Marquee ist beendet: Die Jesus Freaks, eine christliche Gemeinschaft mit schräg-schrillem Jugendkultur-Gestus, haben den Klub in der Friedrichstraße 39 übernommen. Ist damit die altehrwürdige Live-Musik-Institution endgültig gescheitert? „Ganz im Gegenteil“, versichert Ober-Freak Martin Dreyer. „Das Marquee wird kein christlicher Verein. Es soll wieder so werden wie es mal war: Back to the roots.“

Lange herrschte Ungewißheit über die Zukunft des Klubs. Bernd Godenrath, Verantwortlicher der letzten Betreiber-Crew, ist seit Wochen unauffindbar. Seine Abwesenheit löste wilde Spekulationen aus: Ein Sex-Etablissement oder ein griechisches Restaurant sollte angeblich im Klub eingerichtet werden. „Als wir davon hörten, haben wir spontan beschlossen, das Marquee zu retten“, sagt Dreyer.

Träume können auf dem Kiez kurz sein. Die Crew um Godenrath mußte es erfahren. Erst im März dieses Jahres neu eröffnet, war der Live-Klub im November schon wieder gescheitert. Behörden-Auflagen – wie Schallschutz-Maßnahmen – sorgten für rote Zahlen, bevor der Klub überhaupt eröffnen konnte. Hinzu kam eine hohe Miete von rund 8500 Mark. Der Jahrhundertsommer sorgte für ein leeres Haus und gab dem Marquee den Rest.

„Wir wollen nicht enden wie unsere Vorgänger“, gibt sich Martin Dreyer optimistisch. Die Voraussetzungen zum Überleben scheinen wesentlich günstiger zu sein als bei der Godenrath-Truppe. Der Vermieter gewährt den Jesus Freaks deutlich günstigere Konditionen: „Wir gehen kein unkalkulierbares Risiko ein“, meint Dreyer. Kein hartnäckiges Verhandlungsgebaren, sondern „reine Sympathie“ sei es gewesen, die den Vermieter zur Zusage bewogen habe. „Das Marquee ist ganz schön runter. Wir sind viele Leute, die sich engagieren. Darauf setzt der Vermieter.“ Mit im Rennen um die „Streichholzschachtel“ war unter anderem auch Sven Brux mit der Fan-Initiative St. Pauli Hamburg (FISH).

Die Jesus Freaks betreiben mit dem GNLPSWXYBD noch eine andere Kneipe in der Friedrichstraße. Breiten sich die unorthodoxen Christen langsam auf dem Kiez aus? „Na ja“, zögert Martin Dreyer. „Es gibt 'ne Menge zu tun. Wir planen Sozialaktionen wie Obdachlosenessen. Dafür brauchen wir Räume.“ Der bislang unwirtliche Marquee-Keller soll nach der Renovierung neben dem Backstage-Bereich auch Büros und ab Mitte 1995 eine Drogenberatungsstelle beherbergen.

Von Januar an sollen am Wochenende wieder Live-Bands auftreten: Auch Underground-Bands und Newcomer werden ihre Gigs hier abziehen. Unter der Woche werden Partys steigen. Freitags zelebrieren die Freaks wie gewohnt ihren „Jesus Abhängabend“. „Wenn es dumm läuft“, orakelt Prediger Dreyer, „brechen wir uns das Genick. Aber dürfen wir einen der renommiertesten Klubs sterben lassen?“ Eine wahrlich soziale Gemeinschaft, diese Jesus Freaks.

Rainer Schäfer/Gerti Keller