Vampirtitel sind Auflagenvampire

■ Ökonomisch beginnen die schweren Zeiten für den „Spiegel“ erst im nächsten Jahr — und keiner hat ein Konzept

Wie es genau um die Finanzen des Spiegel-Verlags bestellt ist, darüber wollen sich alle, die etwas zu sagen hätten, nicht so recht äußern. Im Zweifel wird Optimismus verbreitet: „Wir machen nicht mehr wie früher außerordentliche Gewinne, aber immer noch ordentliche“, ist die Formel von Peter Bölke, Sprecher der Mitarbeiter KG, die 50 Prozent der Anteile hält. Für 1993 stimmt das auch noch, geschätzt werden sie auf 60 bis 70 Millionen. „Probleme“ gibt man zu, aber keine Krise. Das dürfte sich 1995 ändern.

Das „Problem“ ist weniger die Auflage: Hier hat der Spiegel gerade einmal 30.000 Käufer verloren, bei durchschnittlich 1,1 Millionen scheint das nicht viel. Focus (Auflage 600.000) hat offenbar vor allem solche Leser gewonnen, die vorher den Spiegel nicht gelesen haben. Doch auf dem Anzeigenmarkt gibt es für niemanden neue Kundschaft zu holen, im Gegenteil: Das private Fernsehen nimmt den Zeitschriften immer mehr Werbung weg. Für das nächste Jahr wird der Werbekuchen stagnieren oder leicht zurückgehen. Focus dagegen ist weiter im Aufwind: Mit 5.601 verkauften Anzeigenseiten bis November liegt er in diesem Jahr, wenn auch bei wesentlich niedrigeren Preisen, vor dem Spiegel. Der hat mit 5.012 Seiten gegenüber dem Vorjahr 12,6 Prozent verloren.

Fachleute schätzen, daß die Gewinne dadurch um rund 40 Millionen Mark netto sinken. Also immer noch „ordentliche“ 30 Millionen Plus, könnte man sagen. Den Mitarbeitern soll auch, so bestätigt ihr Sprecher Peter Bölke, im Mai rund die Hälfte der Gewinnbeteiligung des letzten Jahres gezahlt werden. Immerhin. Doch nichts spricht für den Euphemismus des Verlagsmanagements, daß „das Ende der Talsohle erreicht“ ist.

Denn im nächsten Jahr wird man sich montags an den Kiosken noch mehr drängeln. Etwa im März startet der Bauer-Verlag mit seinem Nachrichtenmagazin Feuer, einer der Chefredakteure heißt Harmut Volz und war 17 Jahre beim Spiegel. Auch Springer arbeitet an einem neuen Magazin – egal ob es wirklich nach dem österreichischen Modell News gestrickt ist oder anders aussieht – für den Spiegel wächst die Konkurrenz, vor allem um die Anzeigen.

Da ist heute selbst eine moderne Programmzeitschrift wie das gerade neue erschienene TV-Today, das eine ähnlich anspruchsvolle Zielgruppe anpeilt, ein Mitbewerber. Und jedes neue Blatt muß den bisherigen Magazinen Kunden abspenstig machen, 2.000 Anzeigenseiten braucht es zum Überleben.

Wie kann der Spiegel da mithalten? Kritiker im Verlag raufen sich, ohne daß man sie dabei fotografieren darf, die Haare, wenn sie Titel wie den über Vampire sehen, der sich so schlecht verkauft hat, daß die Gesamtauflage erstmals seit langem unter eine Million gesunken ist. „Ich habe noch nie einen Vampir gesehen“, sagt einer von ihnen. Er wünscht sich Titel, bei denen der Leser fragt: „Wie berührt mich das persönlich?“ Klingt das nicht wie Markworts Focus? Nein, die Tiefe soll natürlich auch nicht verlorengehen, schließlich will man die bisherige „Topzielgruppe“ nicht verlieren.

Doch ein Konzept, wie man neue Leser gewinnt, ohne die alten zu verlieren, ist das auch noch nicht. Daß dieses Konzept keiner hat, nicht Augstein und wohl auch nicht sein Wunschkandidat Stefan Aust, darüber täuscht die heftige Personaldiskussion nur hinweg.

Wer weiß, vielleicht ist Augsteins vehementer Vorstoß erst der Anfang. Angenommen, und das ist realistisch, der Spiegel verliert 1995 noch einmal 10 Prozent der Anzeigen oder muß im Wettbewerb gegen Dumping-Preise seine Anzeigen billiger machen, dann rutscht er in die Verlustzone. Und die Mitarbeiter, die bisher so bequem ihr Gehalt mit Gewinnen aufbessern konnten, werden wohl kaum dafür gerade stehen wollen – in guten Jahren betrug die Ausschüttung bis zu 60.000 Mark, je nach Betriebszugehörigkeit. Kurzfristig könnte der Verlag Gruner+Jahr, der 25 Prozent der Anteile besitzt, wohl mit einem Kredit einspringen, aber auf Dauer?

Augstein äußert immer mal wieder, daß er die „basisdemokratischen Narreteien“ der Mitarbeiterbeteiligung satt habe. Die hat auch in der Vergangenheit dazu geführt, daß der Spiegel kaum verlegerisches Engagement entwickelt hat, Ausschütten ging der Belegschaft vor Investieren. Auch die Kulturzeitschrift Transatlantik wurde, man erinnert sich, dem Bargeldinteresse geopfert und vom Spiegel-Verlag eingestellt.

Wird Augstein die 1995 heraufziehende Krise nutzen, um sein journalistisches Erbe auch ökonomisch zu sichern? Die Anteile der Mitarbeiter könnten – die Idee ist nicht neu – in Pensionsansprüche umgewandelt werden, das Geld dafür müßte wohl von Gruner+Jahr kommen. Darüber allerdings, ob der Zeitschriftenriese auch noch die Mehrheit beim Spiegel bekommt, hat noch jemand mitzureden: das Berliner Kartellamt. Michael Rediske