Verantwortliche der Gedenkbibliothek zum Fall Pietzner-betr.: Alles Opfer, oder was", taz vom 1. 12. 1994

Antifaschisten sind entweder Kommunisten oder „Bürgerliche“, die sich die Auffassung Thomas Manns, wonach der Antikommunismus die Grundtorheit unserer Epoche sei, in der Diktion der SED zu eigen gemacht haben. Gegner des Kommunismus sind entweder Faschisten oder zumindestens „Steigbügelhalter“ desselben. Das war die Grundthese des Antifaschismus-Mythos der SED, das ist die Botschaft, die uns Andreas Schreier in seinem Artikel „Alles Opfer, oder was?“ vermitteln will. Anlaß dafür bietet ihm die skandalöse Anerkennung einer ehemaligen SS-Aufseherin als politisch Verfolgte nach dem Häftlingshilfegesetz sowie die beschleunigte Zahlung einer „Haftentschädigung“. Dabei kennt Andreas Schreier nicht einmal die ganze Wahrheit, sondern kolportiert nur bereits dazu Veröffentlichtes.

In bisherigen Veröffentlichungen zu diesem Fall war stets die Rede davon, daß Frau Pietzner 1944, damals 23jährig, blutjung und sicherlich von einem schneidigen Luftwaffen- oder geheimnisumwitterten SS-Offizier träumend, zur SS dienstverpflichtet und im Frauen-KZ Ravensbrück zur Aufseherin „ausgebildet“ wurde, danach die letzten vier Monate des „tausendjährigen Reichs“ in KZ-Außenlagern als Aufseherin tätig war und nach dem Kriege von einem sowjetischen Militärtribunal (STM) zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Tatsächlich wurde sie nach ihrer eigenen schriftlichen Aussage unter dem Vorwurf, an der Exekution von 100 Häftlingen beteiligt gewesen zu sein, vom SMT zum Tode verurteilt und später zu 25 Jahren Arbeitslager begnadigt. Sie selbst bestreitet bis heute, an der Exekution von Gefangenen beteiligt gewesen zu sein und gesteht lediglich ein, einem Häftling einmal eine Ohrfeige verpaßt zu haben. Die Wahrheit ist nur in einem Rehabilitierungsverfahren zu ermitteln, das inzwischen Tausende von SMTs verurteilter Deutscher und ehemaliger Gulag-Häftlinge beim Obersten Gericht der Russischen Förderation beantragt haben. Hunderte Rehabilitierungsbescheide belegen hundertfache Unschuld, belegen, daß bloße Denunziation bereits zur Verurteilung führte, in Verfahren, die rechtsstaatlicher Rechtsprechung Hohn sprachen und in denen die Angeklagten keine Möglichkeit ordnungsgemäßer Verteidigung hatten. Daß die sowjetischen Arbeitslager und deutschen Konzentrationslager gleichermaßen unmenschlich waren und sich nur dadurch unterschieden, daß in den deutschen KZ, insbesondere zur „Endlösung“ der Rassenfrage, das Schwergewicht auf die industrielle Vernichtung ganzer Volksgruppen gelegt wurde, während das Schwergewicht in sowjetischen Arbeitslagern in der physischen Vernichtung der Menschen durch Arbeit und Hunger lag, soll hier nur nebenbei vermerkt werden.

Angesichts des ungeheuerlichen Vorwurfs der Beteiligung an einem Massenmord, der zumindest Frau Popiolek bekannt war, muß man sich fragen, in welche politischen Verirrungen blanker Linkenhaß noch führen kann. Angesichts der honorigen Zuwendung von 15.000 DM durch die heute schwerkranke und gebrechliche SS-Aufseherin an Frau Popiolek, aber auch in Höhe von 7.000 DM an Siegmar Faust, der sich beim damaligen Justizminister Klaus Kinkel für ein beschleunigtes Anerkennungsverfahren für die ehemalige KZ-Aufseherin einsetzte, liegt der Verdacht der Vorteilsnahme und der ihretwegen erfolgten Verdrängung aller moralischen Bedenken recht nahe. Daß ausgerechnet die linksorientierte Wittenberger Forscherin Renate Gruber Frau Pietzner/Kunz als hilfsbedürftige Person in die Gedenkbibliothek einführte, riecht zwar sehr nach gezielter Provokation, rechtfertigt jedoch nicht politische Instinktlosigkeit oder gar Schlimmeres. In diesem Zusammenhang kommt man nicht umhin, auf das Hinausdrängen der Gründer der Gedenkbibliothek, Bärbel Bohley und Jürgen Fuchs, aus dem Vorstand des Fördervereins zu verweisen. Sie scheint mir die Folge einer politischen Fehlentwicklung zu sein, sehr zum Schaden des Ansehens der unter kommunistischer Herrschaft politisch Verfolgten. Die Mitglieder des Fördervereins der Gedenkbibliothek haben allen Anlaß zu kritischer Reflexion und Fragestellung und sicherlich auch zu personalpolitischen Konsequenzen.

Schuld trifft auch die Beamten in der „Stiftung für politische Häftlinge“. Sie sind zur Prüfung eines jeden Antrags auf Anerkennung als politisch Verfolgter sowie dem Häftlingshilfegesetz (HHG) und der ihm entsprechenden langjährigen Rechtsprechung verpflichtet. Das HHG schließt Personen, welche sich an Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen beteiligt haben, von der Anerkennung als politisch Verfolgte aus. Die geltende Rechtsprechung interpretiert diese allgemein gehaltene Festlegung des HHG dahingehend, daß ehemalige Angehörige der SS und Gestapo grundsätzlich von der Anerkennung als politisch Verfolgte auszuschließen sind. Täter, die wegen ihrer begangenen Verbrechen verurteilt und inhaftiert wurden, sollen – so will es das Gesetz und so soll es auch bleiben – nicht nachträglich zu Opfern mutieren (auch dann nicht, wenn die Haftbedingungen unmenschlich waren und unseren Vorstellungen von Strafverbüßung nicht entsprachen). Wer diesen Grundsatz über Bord wirft, kann guten Gewissens heute nicht die Strafverfolgung von in der kommunstischen Diktatur begangenen Unrechts fordern.

Die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft verbindet mit den Opfern nationalsozialistischer Gewaltherrschaft vieles, mit den Schergen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft überhaupt nichts. Nicht wenige Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft waren kurz zuvor Opfer der Nazis, darunter nicht wenige Sozialdemokraten, aber auch Bibelforscher, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, desgleichen Trotzkisten, Sozialrevolutionäre und zuweilen sogar aufrechte Kommunisten. Aber es gab eben auch Kommunisten, die – kaum daß sie die unmenschlichen Torturen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft überlebt hatten – ihrerseits zu Schergen einer von ihnen geschaffenen Diktatur wurden. Das macht die Verständigung zwischen den Opfern beider totalitärer Diktaturen so schwierig. Andreas Schreiers kolportierter Bericht über einen skandalösen Vorfall ist da wenig hilfreich. Weil er es nicht bei der kritischen Wertung des Vorfalls beläßt, sondern in einem denunziatorischen Rundumschlag (...) jenen Antifaschismusmythos wiederaufleben läßt, der einzig und stets zur Rechtfertigung der SED-Diktatur herhalten mußte, vertieft er die Gräben zwischen den Opfern zweier totalitärer Diktaturen. Hans Schwenke