Öffentliche Erklärung-betr.: "Alles Opfer, oder was, taz vom 1. 12. 1994

1. Die ungeheuerlichen Angriffe und Vorwürfe in der taz und bei Vox haben mich entsetzt und erschüttert. Da ich aber die Richtung wußte, traf es mich viel tiefer, daß es von manchen sogar geglaubt oder einigen sogar gern geglaubt wurde, und daß das Bild von einem Menschen, der doch in weiten Teilen der Öffentlichkeit Vertrauen genießt, durch eine Schlagzeile zunichte gemacht werden kann, ohne hinterfragt zu haben.

2. Meine Idee mit der Errichtung einer Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus als Begegnungsstätte für ehemalige politische Häftlinge schloß Lesungen von Opfern aus ihren Hafterinnerungen ein. So kam es über eine nach der Anschrift von Professor Wolfgang Leonhard schriftlich anfragenden Frau Pietzner zu einer Terminabsprache für eine Lesung aus ihren Hafterinnerungen in der Bibliothek am 14. 8. 94, zu der sie die Wittenberger Schriftstellerin Frau Lieblich, heute Gruber, begleitet hat.

Durch die Bezeichnung ihrer Aufseherinnentätigkeit in dem Manuskript als Dienstverpflichtung zur SS (mein damaliger Kenntnisstand) und die Bitte durch die „Wittenberger Forscherin“ (lt. taz-Artikel), die anstelle von Frau Pietzner las, in der SS, wobei allein das Wort SS Herrn Faust und mich sowie alle Zuhörer bei der Lesung zurückschrecken ließ, zu unterscheiden in Menschen, die sich freiwillig gemeldet und Verbrechen begangen haben, und Menschen, die in dieser schrecklichen Funktion auch noch geholfen haben (so in ihrem Manuskript), fühlte ich mich damals nicht veranlaßt, mir anschließend darüber Vorwürfe zu machen, diese Veranstaltung in der Bibliothek durchgeführt und die beiden Vorstandsvorsitzenden nicht besonders informiert zu haben.

Im nachhinein kann ich das nur bedauern. So sehe ich mich heute in alleiniger Verantwortung. Dafür lege ich mein Mandat als Vorstandsmitglied nieder.

3. Die Vorwürfe wegen des angenommenen Geldes weise ich zurück. Ich distanziere mich davon, daß ein Zusammenhang hergestellt wird, der taz-Artikel suggeriert ihn, und ohne Hintergrundwissen könnte es ja auch so erscheinen – zwischen meiner Funktion in der Gedenkbibliothek und meinem Privatleben.

Da die Beziehungen zwischen Frau Pietzner und unserer Familie (einschließlich meiner Eltern, Kinder und sogar unserer Verwandten und Freunde) über einen längeren Zeitraum rein privat und freundschaftlich waren, ja darin gipfelten, daß sie nach dem Tode ihres Mannes, als – wie sie sagte – allein auf der Welt ohne nähere Angehörige in unserer Familie aufgenommen wurde mit dem Versprechen, uns bis an ihr Lebensende für sie verantwortlich zu fühlen, bis sogar dahin, daß sie das Testament ändern und ihre künftige Grabstätte von Wittenberg nach Berlin verlegen lassen wollte, damit wir auch dann noch für das Grab verantwortlich sein sollten.

Davon wie auch von der Bitte der Führung ihrer Konten auf meinem Namen konnten wir sie abbringen.

Ich will nur damit andeuten, daß es sich bei unserer Beziehung ganz und gar und ausschließlich um unser Privatleben handelte. Über die vielen Details werde ich noch einen chronologischen Bericht geben, woraus hervorgehen sollte, daß auch keine moralischen Vorwürfe geltend gemacht werden könnten, die viele Male abgelehnte, aber dann doch, weil Frau Pietzner darauf bestand (vor Zeugen), überreichte Schenkung angenommen zu haben. „Lieber Herr Popiolek, liebe Frau Popiolek, hiermit überreiche ich Ihnen für ihre außerordentliche Liebe, Aufopferung, Fürsorge und Erschwernisse 15.000 DM. In großer Herzlichkeit und Beständigkeit immer Ihre dankbare Margot Pietzner als Schenkung“ (1. 4. 93).

Ich hatte mich bereits schriftlich erklärt, nachdem Verdachtsmomente durch den taz-Artikel gestreut wurden: „Sollte wider Erwarten bekannt werden, daß Frau Pietzner während ihrer Zeit als SS- Aufseherin Verbrechen oder, wie dort gesagt, Bestialitäten gegenüber Gefangenen begangen habe, so würde ich trotz des privaten Empfanges des Geldes auf eine Rückgabe an die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge bestehen.“

4. Da ich Frau Pietzners Aussagen bis Dienstag abend (6. 12.) geglaubt habe gegen alle, die sie, wie ich meinte, ohne Hintergrundwissen und Fakten verurteilten und gegen alles, was mir angedeutet wurde, aber mir wie Vorverurteilung klang, war es für mich das Erschütterndste, was mir wohl überhaupt im Leben an menschlicher Enttäuschung widerfuhr, als ich aus ihrer jetzigen unmittelbaren Umgebung erfuhr, daß die Frau mich seit langem belügt, was mir verbietet, ihre Version von der dienstverpflichteten SS-Aufseherin zu glauben. Ich distanziere mich von dieser Frau, verachte sie und bedauere, ihr je im Leben begegnet zu sein (oder bedauere sie als schwerkranken haftgeschädigten Menschen).

5. Durch diese menschliche Enttäuschung ist ein zweiter Grund gegeben, die Schenkung zurückzugeben. Dann hab ich eben nur für sie „gearbeitet“, ohne es zu merken, weil sie immer hat Leute für sich arbeiten lassen – wie ich jetzt weiß –, zur Zeit arbeiten die Journalisten für sie.

Ich wäre bereit, das Geld denen zu spenden, die sich mit dergleichen Problemen Leid und Schuld, Opfer und Täter beschäftigen, die davon – so wie ich – ganz persönlich erdrückt und seelisch belastet sind. Da wir alle nicht psychologisch ausgebildet sind, mit Haftkranken und gebrochenen Menschen umzugehen, allein aus dem Gefühl zu helfen heraus handeln, sind wir eigentlich seelisch überfordert und wie in meinem ganz persönlichen Fall noch angreifbar, weil mein Engagement bis in mein Familienleben hinein reichte.

Ich gebe das Geld an Frau Pietzner zurück. Ursula Popiolek, 9. 12. 94