Der ewige Zivilist

Zwischen Frauen und Menschenrechten – Rainer Hildebrandt, Gründer des Hauses am Checkpoint Charlie, wird achtzig  ■ Von Marko Martin

Natürlich ist er ein Unbequemer. Aber keiner der üblichen Sorte, keiner der sogenannten „Stillen im Lande“, die immer soviel Lärm machen müssen und jede verfügbare Zeitungsspalte oder Talkshow für ihre Raisonnements nutzen.

Er ist der einzige in Berlin lebende Schwabe, den ich kenne, der den Mief Baden-Württembergs nicht mit in die Metropole gebracht hat; sein unverdrossenes „Grüß Gottle“, mit dem er Freunde und die Besucher seines Museums begrüßt, hat nichts Penetrantes.

Was soll man über ihn schreiben? Sie sind ja schon so vernutzt, die Glückwunsch-Floskeln vom junggebliebenen Alten, vom Berliner Original oder der guten Seele des Museums. Aber es muß ja doch einmal gesagt werden, daß dieser Rainer Hildebrandt, der heute achtzig wird, ein Pfundskerl ist. Das Haus am Checkpoint Charlie wäre nichts ohne ihn, den Chef, den Chaoten, den Verwuselten und Zerstreuten, der immer wußte, worauf es ankommt: Mitmenschlichkeit. Wieder so ein Würdigungswort.

Aber von ihm kann man lernen, daß der Kampf für Menschenrechte jung hält. Man muß sich ja nicht mit Ideen abquälen, Hildebrandt will nur – und das ist ein ziemlich großes nur –, daß Menschen nicht leiden müssen, daß sie ohne Folter und Einsperrungen leben können. Deshalb haben sie ihn beide gehaßt, die Nazis und die Kommunisten. Aufgewachsen in einer Stuttgarter Künstlerfamilie, als „Vierteljude“ knapp den Nazi- Repressionen entkommen, leistet er Kurierdienste für die Gruppe Schulze-Boysen-Harnack.

Sein Freund und Lehrer Albrecht Haushofer wird von den Nazis umgebracht, Hildebrandt selbst kommt wegen „Wehrkraftzersetzung“ für 17 Monate in Gestapo-Haft. Nach dem Krieg engagiert er sich gegen die Kommunisten, kämpft für Deportierte, gründet einen Suchdienst für politisch Gefangene und zieht sich dann wieder zurück, als sein Prinzip der Gewaltlosigkeit nicht mehr mitgetragen wird. 1963 gründet er das Haus am Checkpoint Charlie, unterstützt Fluchthelfer, sammelt Dokumente über die Mauer.

Aber komme ihm keiner mit ideologischen Theorien. Die Besucher und Fernsehteams aus aller Welt kriegen immer eine recht simple Erklärung geboten: „Wissen Sie, meine besten Freunde habe ich in der Nazizeit verloren; durch meine Arbeit aber lebe ich mit ihnen weiter und fühle mich ihnen dadurch nahe.“ Das reicht auch.

In der DDR bezeichnete man das Museum als „Hort von Stahlhelmen, Neonazis und CIA-Agenten“, die Westberliner Linke dachte wohl kaum anders. Später brach der Bann, Gert Bastian und Petra Kelly kamen, man traf sich mit osteuropäischen Bürgerrechtlern, Hildebrandts Freunde Jelena Bonner und Lew Kopelew waren häufige Gäste.

In den engen Räumen findet sich neben Mauerflucht-Objekten russische Avantgardekunst. Bildtafeln erzählen die Geschichte des gewaltfreien Widerstands von Gandhi über Martin Luther King bis Václav Havel; für Relativierungen und Aufrechnungen ist hier kein Platz.

Hildebrandt ist jeden Tag da, treibt die Mitarbeiter mit seinen Briefdiktaten in den Wahnsinn oder setzt sich einfach mitten in eine Studentengruppe und erzählt. Er ist väterlich, aber ohne paternalistische Attitüde. Er liebe die Frauen und die Menschenrechte, sagte er einmal. „Grüß Gottle, dich habe ich ja schon gekannt, als du noch Jungfrau warst, nicht wahr“, sagt er freundlich zu einer ehemaligen Mitarbeiterin und lacht. Niemand nimmt das übel.

Nie habe ich einen Menschen gekannt, der so offen, so ohne alle Taktik und Bosheit ist, an dem alles Kalkül so völlig abprallt. Wobei seine Gutherzigkeit auch eine Schattenseite hat: Ob die Wandlung des Politbüroschurken Schabowski wirklich stattfand und ob die zu den „Täter-Opfer-Gesprächen“ eingeladenen MfS-Offiziere wirklich mehr wollten, als das Büffet des Museums zu plündern, wage ich zu bezweifeln. Aber wer wie Hildebrandt nur durch seine bloße Präsenz auf der Straße die DDR-Grenztruppen am Checkpoint Charlie in Alarmzustand versetzte, hat danach auch das Recht zum noblen Pardon.

Für mich ist er ein Symbol: der ewige Zivilist, der gegen Uniformierung und Unterdrückung ankämpft, ohne die Verbissenheit seiner Gegner zu übernehmen. Also ist er Mensch geblieben – viel mehr als ein Symbol.