■ Noch eine Antwort auf Daniel Cohn-Bendit
: Die fatale Spaltung der Moral

Sollen auch die Pazifisten unter den Deutschen endlich „Verantwortungsethik“ lernen?

So wäre die Frage Daniel Cohn- Bendits („Sollen in Bosnien auch deutsche Kampfflieger eingreifen?“, taz vom 7. 12. 94) richtiger zu formulieren. Die ganze Misere eines zwar emotional nachvollziehbaren, geradezu schmerzhaft- ehrenwerten, aber zugleich oberflächlichen und regelrecht naiven politischen Argumentierens läßt sich bereits am ersten Satz seiner Polemik festmachen: „Nun müssen die Bundesregierung und die Opposition im Falle Bosnien Farbe bekennen.“ Gar nichts müssen sie: schon am selben Tag hat das Bundeskabinett nicht einmal eine halbe Stunde diesem Problem gewidmet. Der Grund dafür ist, bei aller Komplexität in der Sache, vergleichsweise schlicht: Im Augenblick ist es für die militärstrategischen und außenpolitischen Ambitionen der Bundesregierung und der sie stützenden Kräfte, einschließlich der SPD-Opposition, aus den verschiedensten Gründen nicht opportun, daß sich die Bundeswehr an dieser Stelle ihre durch das Verfassungsgerichtsurteil legitimierten ersten Sporen verdient. Wann und wo das der Fall sein wird, das entscheiden die beiden staatstragenden Parteien. Aber bei den Entscheidungskriterien werden die humanitären Gründe – der Schutz des Lebens bedrohter Menschen – die geringste Rolle spielen, auch wenn diese dann, vorhersehbar, ganz oben auf der Rechtfertigungsskala erscheinen. Schließlich ist die Bundeswehr ein Instrument der Politik und kein Samariter- Verband oder Rotes Kreuz.

Wäre die Außenpolitik der Bundesrepublik primär oder auch nur besonders engagiert am Schutze von Menschenrechten und von Menschenleben in anderen Teilen der Welt orientiert (von der Überwindung struktureller Armut ganz zu schweigen), so wäre sie längst ein Sonderling in der Interessengemeinschaft der Industriestaaten. Dann hätte sie z.B. eine ganz andere Waffenexport-Politik (nämlich ein striktes Waffenexport-Verbot), eine ganz andere Menschenrechtspolitik (nämlich Abbruch oder Einfrieren diplomatisch-wirtschaftlicher Beziehungen zu Staaten wie China, Iran oder Indonesien, deren Regierungen Mord als Mittel ihrer Politik offen betreiben), eine andere Drittwelt- und Entwicklungshilfepolitik usw. So aber unterscheidet sich ihre Außenpolitik substantiell durch nichts von der Außenpolitik ihrer Partner. Kohl, Kinkel & Co. spielen ihr Politikspiel nach denselben Erfolgskriterien.

Zu den Spielsteinen dieser Realpolitik gehört auch das Militär. Deswegen wollte Adenauer gleich nach der Gründung der Bundesrepublik die Wiederaufrüstung, deswegen will die Regierung der Zweiten Bundesrepublik jetzt die Beteiligung an Welt-Polizeiaktionen: Mitsprache, Gleichberechtigung. Künftige Einsätze der Bundeswehr dienen diesem strategischen Zweck als taktisches Mittel, nicht aber dazu, irgendwo in der Welt „Frieden“ zu sichern oder gewaltsam zu stiften: auch wenn das im Einzelfall sogar die Folge sein könnte.

Die politische Naivität Cohn- Bendits besteht darin, daß er seine eigene Motivation für einen (deutschen) Militäreinsatz auch der Bundesregierung unterstellt – explizit sogar in der fiktionalen Rede Kohls vor dem Parlament. Die Wahrheit ist doch wohl eher die: Eine Bundesrepublik, deren Kanzler eine solche Rede halten könnte, wäre gar nicht die Bundesrepublik, mit der wir es zu tun haben. Ein so denkender und fühlender Kanzler wäre der Repräsentant einer politischen Klasse mit einer ganz anderen Geschichte, einer ganz anderen deutschen Identität, einem ganz anderen moralischen Profil als die, mit der wir es zu tun haben. Die aber ist ebenso realpolitisch, zynisch, sie denkt und handelt so pragmatisch und verantwortungsethisch wie alle ihre Kollegen und Kolleginnen in den Ministersesseln anderer Staaten. Die hat doch längst „Farbe bekannt“.

Verantwortungsethik ist das große Zauberwort für die Einübung in die realpolitischen Spielregeln. Das Zerreißen der Ethik in zwei Sphären, die des Privat-Zwischenmenschlichen und die des Staatlich-Politischen, ist eine der großen intellektuellen Sünden Max Webers. Als „Gesinnungsethiker“ verhöhnte er alle diejenigen, die es wagten, die Politik und insbesondere die Außenpolitik an moralischen Maßstäben des Gewissens und der unverstellten Menschlichkeit zu messen; dem handelnden Staatsmann konzedierte er die Emanzipation von solchen Skrupeln und unterwarf ihn dafür einer „Verantwortungsethik“, die sich an den Zwecken, nicht an den Mitteln zu orientieren habe. Unterm Strich kam dabei die Maxime vom Zweck, der die Mittel heilige, heraus – und ein selbstaufgestellter Freibrief für jede Form machtpragmatischen Handelns. Heute sehen sich alle Politiker als „Verantwortungsethiker“.

Cohn-Bendit gibt jene mühsamen Anstrengungen und Versuche, die Politik wieder der Moral zu unterwerfen, also die verhängnisvolle Spaltung von privater und politischer Ethik zu überwinden, der Ironie und Lächerlichkeit preis. Denn darauf läuft sein Plädoyer doch hinaus: Auch die Grünen sollen endlich lernen, „realpolitisch“ zu denken, die Kategorien und Spielregeln traditioneller Machtpolitik zu akzeptieren, Schluß zu machen mit ihrer Gesinnungsethik. Und er tut das, indem er betont moralisch argumentiert: Eben weil der humane Zweck doch so ganz jenseits legitimen Zweifels liegt, muß jedes Mittel recht sein. In seinem Bemühen, politisch realistisch zu denken, erkennt er nicht mehr, daß moralische Integrität und die öffentliche Suche nach Alternativen zur verantwortungsethischen Realpolitik das wichtigste politische Potential sind, über das die Grünen noch verfügen. Und dazu gehört auch die Absage an jede Form militärischen Interventionismus.

Wenn der prinzipielle Widerstand gegen die Absage an jeden militärischen Interventionismus, an eine militärgestützte Außenpolitik überhaupt aufgegeben wird, so macht man es den Regierungen lediglich etwas leichter, ihre realpolitischen Strategien und Zwecke durchzusetzen. Und wenn dann dereinst zum Beispiel die Bundeswehrpläne militärischer Rohstoffsicherung politisch durchgesetzt werden, dann ist es zu spät zu rufen: „das habe ich damals nicht gewollt“. Du hast; denn Du hast, ungewollt, politisch naiv, das Machtkalkül akzeptiert, für das die Bosnien-Diskussion nur ein Mittel zum Zweck war, während Du meintest, es sei selbst der Zweck.

Daß diese Bosnien-Intervention nicht stattfindet, liegt nicht am vermeintlichen „pazifistischen Mainstream“ – schön wäre es, wenn es wirklich ein Hauptstrom in dieser Gesellschaft schon wäre –, sondern vor allem daran, daß die Militärs wissen, daß da mit einigen Tornados nicht viel auszurichten ist. Nur Schreibtischstrategen stellen sich das so einfach vor und geben bei der Gelegenheit auch noch einem ganzen Kontinent wie Afrika kluge Ratschläge, was da mit dem Militär zu tun wäre. Einfach so. Ekkehart Krippendorff

Hochschullehrer an der FU Berlin und Autor von u.a. „Militärkritik“, Suhrkamp 1993; siehe auch die Replik auf Cohn-Bendit in der taz vom 9. 12. 94