Silke mit dem entzaubernden Blick

■ Alleinreisende Frauen gelten als emanzipiert, aber nicht immer neuen Horizonten zugewandt: Wenn das Fremde zum positiven Gegenentwurf des Eigenen wird. Auch eine Buchbesprechung

Silke und Gerlinde waren dieses Jahr in der Türkei. Schöne Landschaft, prima Sonne, aber „die Männer wie Fliegen“. „Wir haben uns abends schon nicht mehr rausgetraut“, erzählt Silke. Gerlinde sieht das weniger verkrampft, aber auch sie meint, daß die Typen ganz schön rangehen. Doch eigentlich fand sie so manches Gespräch auch „richtig nett“. Ihre Kollegin zum Beispiel habe sogar einen zehn Jahre jüngeren Türken geheiratet.

Wärme aus dem Süden, die Nordfrau taut beim Südmann auf. Etwas irritiert denke ich an meinen Andalusien-Trip. Ziemlich einsam und kaum einer, der mich erobern wollte. Wahrscheinlich lags an meinem verkrampften „Rühr mich nicht an“-Blick. Ein Blick, hart an der Grenze zum Verbiesterten, den ich schon bei vielen alleinreisenden Frauen beobachtet habe. Silke und Gerlinde waren zu zweit natürlich wesentlich souveräner: So leicht läßt man sich da nicht zum Sexualobjekt reduzieren.

Wir sitzen beim Marokkaner und tauschen Reiseerfahrungen aus. Alle drei braungebrannt und voller neuer Eindrücke. Abgesehen von den Männern fand Silke das kleine türkische Fischerdorf, wo sie den Urlaub verbrachten, toll: „Das sah sehr natürlich aus, sehr angenehm.“ Und Gerlinde bewundert, ganz im Gegensatz zu den gockelhaften Männern, die Frauen: „Die haben so eine Art, Weiblichkeit auszuleben, ganz anders als wir.“ Auf die Frage, ob sie tauschen möchte, schüttelt sie entsetzt den Kopf. Trotzdem vergleicht sie ihr Frauenleben hier mit dem Frauenleben dort: „Die leben ja immer noch in Großfamilien. Die haben's dort viel leichter als hier, wo's am Kindergartenplatz scheitern kann.“ Seit zwei Jahren überlegt Gerlinde nämlich schon: Kind ja oder nein. Der geschlechtsspezifische Urlaub mit Silke ohne ihren Georg sollten diesem noch mal Zeit zur Besinnung geben – für oder gegen Kleinfamilie. Als Lösung aller Familiengründungsprobleme sieht sie nun die Großfamilie. Silke holt sie zurück: „Kannst ja nach Denkendorf zu deinen Eltern ziehen.“ Gerlinde zuckt beleidigt mit den Schultern, doch so leicht gibt sie sich mit der postindustriellen Realität nicht zufrieden: „Diese Bilder am Markt, in den Cafés, immer wieder bist du in einer Zeit, die du vergangen glaubst, wenn du in Europa lebst“, schwärmt sie. „Da brauche ich nur durch Kreuzberg oder Kleinkleckersheim zu streifen, dann habe ich beim einen die türkische Männeridylle, beim anderen die verschlafene Rückständigkeit.“ Silke ist mit ihrem desillusionierenden Blick nicht zu bremsen. Mir scheint, die Reisezeit der beiden war nicht frei von persönlichen Spannungen.

Ich reiße das Gespräch an mich und erzähle ganz unbefangen von dem Flamenco-Festival, das ich in Andalusien erlebt habe. Gerlinde hat gleich eine inhaltsgeschwängerte Analyse parat: „Also hier singen die Leute zum Beispiel nur, wenn sie im Suff sind. Und dort denke ich, Musik ist viel wichtiger als hier. Also Musik zu machen und nicht Musik hören, konsumieren...“ Wieder fällt ihr Silke unsanft ins Wort und zerreißt das erbauliche Gewebe von heiler, ursprünglicher Welt: „Die saufen dort doch alle Sherry und Brandy becherweise und, überhaupt, mein Bruder spielt im Feuerwehrchor Posaune, echt kreativ.“

Gerlinde wird sauer. „Zu Kreativität gehört auch Zeit, sich fallenzulassen. Ich bewundere die Leute, ob in Spanien oder der Türkei, für ihre Gelassenheit. Die leben nicht so mit Streß und nach dem Terminkalender wie unsereins.“ – „Also wenn ich die Frauen auf dem Feld ackern sehe, dackle ich morgens lieber gestreßt ins Büro“, kontert Silke. Vor dem entzaubernden Blick von Silke verblaßt Gerlindes und mein Urlaubsidyll immer mehr. Warum, verdammt, läßt sie uns nicht bei den anderen finden, was uns hier fehlt. Anders sind sie sowieso. Warum können wir sie nicht sehen, wie wir wollen. Voller Stereotypen – von mir aus –, aber beunruhigend schön!

Zum Glück bringt der „offene und freundliche“ (O-Ton Gerlinde) marokkanische Kellner unser Couscous: Ganz entspannt im Hier und Jetzt machen wir uns schweigend darüber her – jeder für sich seinen Urlaubsträumen und -wünschen nachhängend. Unzensiert. Edith Kresta

Die meisten Zitate dieses Urlaubsstammtisches wurden frei entnommen aus: „Und tät' das Reisen wählen!“, Frauenreisen – Reisefrauen, Hrsg.: Doris Jedamski, Hiltgund Jehle, Ulla Siebert, S. 236 ff, Interviews zum Thema: „Vom Nutzen der kulturellen Differenz für die Selbstpositionierung reisender Frauen“. Ein Buch über die Fremderfahrung reisender Frauen aus Vergangenheit und Gegenwart, eFeF-Verlag, Zürich-Dortmund, 1994

Ein weiteres Buch zu Selbsterfahrung der reisenden Frauen schrieb Annegret Pelz: Reisen durch die eigene Fremde, Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Böhlau-Verlag, Köln 1993.