Und nun bleiben wir hier

Auf ein Alter in Deutschland sind die ArbeitsimmigrantInnen nicht vorbereitet – und die deutsche Gesellschaft ist es auch nicht  ■ Aus Berlin Anja Kaatz

„Kaputt“, sagt Merlüde, „ich bin kaputt.“ Fünfzehn Jahre lang hat die Frau aus dem türkischen Adana in einem Berliner Krankenhaus gearbeitet. Jetzt fühlt sie sich alt. Sie ist 61.

Bis zu einer Operation im vergangenen Jahr konnte sie ihre Augen nur öffnen, indem sie die Lider mit den Fingern anhob. Deshalb sah sie fast nichts mehr. Auch jetzt noch sind die Pupillen fast verdeckt. „Gift“, sagt Merlüde und fährt mit ihrer Hand über ihr gestreiftes Kleid, als wasche sie sich. Die letzten acht Jahre hat sie im Keller des Krankenhauses Leichen gewaschen und für die Beerdigung vorbereitet. Merlüde glaubt, sie sei mit Leichengift in Berührung gekommen, und führt die Lähmung der Augenlider auf ihre Arbeit zurück.

Vor 30 Jahren sind Menschen wie sie aus der Türkei, Griechenland oder Italien angeworben worden, um in der Bundesrepublik zu arbeiten. Ein Großteil von ihnen wird – entgegen aller Prognosen – in Deutschland alt werden und sterben. Vier Prozent der Arbeitsimmigranten sind jetzt über 60. Aber wann ist ein Mensch alt?

„Alter bedeutet für türkische Frauen oft etwas anderes als für uns“, sagt Hanen Bucioglu, Sozialarbeiterin bei Bacim, einer türkischen Frauenberatungsstelle in Berlin-Moabit. „Eine Frau, die Großmutter ist, fühlt sich alt, unabhängig von ihren Lebensjahren. Frauen, die in einem bestimmten Alter noch kinderlos sind, fühlen sich alt. Geschiedene Frauen sind schneller isoliert, und Frauen, die einsam und körperlich verbraucht sind, fühlen sich überall alt.“

Besonders für ArbeitsimmigrantInnen gelte, so Maria Dietzel- Papakyriakou in ihrer Expertise zum 1. Altenbericht der Bundesregierung, „daß das körperliche Alter aufgrund ihres intensiven und frühzeitigen Gesundheitsverschleißes und das psychosoziale Alter aufgrund kultureller Faktoren viel früher als das chronologische Alter“ eintritt.

„Ich habe Schmerzen – immer.“ Merlüde deutet auf Bauch und Rücken und faßt sich an ihren von einem grauen Tuch bedeckten Kopf: „Immer Schwindel.“ Sie hat einen Schwerbehindertenausweis. Neben körperlichen Verschleißerscheinungen stellen Ärzte bei ausländischen ArbeiterInnen überdurchschnittlich viele psychosomatische und psychische Erkrankungen fest. „Die Frauen, die zu uns kommen“, sagt Mechthild Gottbrath, ebenfalls Sozialarbeiterin bei Bacim, „suchen fast alle Hilfe beim Psychologen oder Nervenarzt.“

Dabei waren sie einst die Kräftigsten und Mutigsten, die aus den Dörfern Anatoliens oder Siziliens aufgebrochen sind. Der Krankenstand bei AusländerInnen lag lange Zeit weit unter dem ihrer deutschen KollegInnen. Dreckarbeit in Lärm und Hitze, unter giftigen Dämpfen oder draußen bei jedem Wetter hat sie krank gemacht. Die Zahl der FrührentnerInnen ist seit 1987 deutlich gestiegen, melden die Landesversicherungsanstalten – allein unter den TürkInnen innerhalb von vier Jahren um über 20 Prozent.

Glaubt man den Hochrechnungen, werden in sechs Jahren dreimal so viele Ausländer in Deutschland über 60 Jahre alt sein, im Jahr 2030 zehnmal so viele wie heute: 2,2 Millionen Menschen. Wie und wo werden sie dann leben? Die gängige Vorstellung, daß alle Alten in ihren Familien bleiben können, entspricht nicht mehr der Realität.

Wenn sie zu ihrer Familie komme, erzählt die 53jährige Aydogän, passiere folgendes: „Mund zu, Tür zu, guten Tag.“ Ihre Hand macht eine abschließende Geste. Vier Enkel hat sie, zwei Mädchen und zwei Jungen. „Immer haben die viel gekriegt. Jetzt bin ich allein und bekomme von ihnen nicht viel zurück.“ Aydogän zuckt die Schultern.

Das Leben zwischen den Kulturen hat Spuren hinterlassen, auch wenn die Familienbindungen oft noch eng sind. Die zweite und dritte Generation der Einwanderer ist stärker vom deutschen Alltag geprägt. Die jungen Leute treffen ihre Entscheidungen zunehmend in der Kleinfamilie. Das traditionelle Rollengefüge, das den Alten eine wichtige Stellung garantierte, gerät durcheinander. Und selbst wenn die Jungen mit den Alten zusammenleben wollten: Große Wohnungen sind Mangelware.

Denn, so die Expertise zum Altenbericht der Bundesregierung, AusländerInnen zahlen noch immer „für durchschnittlich schlechtere Wohnungen durchschnittlich höhere Mieten bei durchschnittlich niedrigerem Einkommen.“

Andererseits leben aber auch viele alte AusländerInnen schon heute allein. Unter den über 60jährigen sind doppelt so viele Geschiedene wie bei gleichaltrigen Deutschen. Manchmal sind es die Männer, die zurückgehen in ihr Geburtsland, und die Frauen entscheiden sich zu bleiben. Die Sozialarbeiterinnen bei Bacim meinen, daß die Frauen hierbleiben, weil sie „ihre Rechte kennen, auch wenn sie sich oft nicht trauen, sie einzufordern. Daheim müßten sie wieder tun, was der Mann sagt.“ Oder sie halten an dem Traum fest, eines Tages zu den Kindern ins Heimatland zurückzukehren. Aber, so Hanen Bucioglu, „es ist anzunehmen, daß sie die Rückkehr nicht mehr schaffen – schon aus gesundheitlichen Gründen.“ Oft haben die Frauen allein für die Familie gelebt und für ihr Alter auf Geborgenheit bei Kindern und Enkeln gehofft.

„Die Türkinnen haben vier, fünf Kinder großgezogen und dabei noch Schwerarbeit in der Fabrik geleistet“, sagt Mechthild Gottbrath. „Und da wundern sich die Leute, daß sie keine Zeit hatten, richtig Deutsch zu lernen. Das bißchen Fabrikdeutsch verlernen sie dann schnell, wenn sie erst mal raus sind aus der Arbeit.“ Plötzlich auf sich selbst gestellt, fühlten sie sich fremder denn je.

Alte Männer haben ihre Kneipen, das türkische Kaffeehaus, Sportvereine. „Die meisten Frauen“, erzählt Mechthild, „sitzen hinter geschlossenen Türen. Wir versuchen hier, die verlorene Gemeinschaft etwas zu ersetzen.“ Die Türkinnen kommen zu Bacim, um zu reden, Freundinnen zu sehen, sich Hilfe zu suchen in Behördenangelegenheiten oder auch um zu duschen. Merlüde beispielsweise bewohnt ein kleines Zimmer, „ohne Dusche, ohne Klo“. Wenn sie sich ihr Haar waschen will, ist sie auf die Hilfe ihrer Freundinnen bei Bacim angewiesen. Kaum eine kann sich eine bessere Wohnung leisten. 250 Mark Miete zahlt Merlüde, 450 Mark bleiben ihr dann noch von ihrer Rente zum Leben. Außerdem unterstützt sie ihre krebskranke Tochter in der Türkei. Durchschnittlich 710 Mark Rente erhielten türkische Frauen 1992, 190 Mark weniger als die Männer. Und Witwenrenten liegen noch niedriger.

Armut jedoch kann für sie besonders gefährlich werden. Maria Dietzel-Papakyriakou fürchtet, „daß von Obdachlosigkeit bedrohte Ausländer Hilfsdienste nicht in Anspruch nehmen, da sie versuchen, nicht aufzufallen.“ Die Angst vor dem Gang zum Sozialamt und vor deutschen Behörden ist bei vielen alten AusländerInnen groß, auch wenn sie nicht von Abschiebung bedroht sind. „Was wir einfach ganz dringend und zuallererst brauchten“, sagt Mechthild Gottbrath, „sind zentrale Beratungsstellen.“

Die Bundesregierung aber antwortete 1993 unmißverständlich auf eine große Anfrage der SPD, es sei „personell und finanziell nicht möglich, in größerem Umfang spezielle Beratungsangebote für ausländische Senioren zu entwickeln und anzubieten“. Und im übrigen müßten zunächst „die Selbsthilfekräfte ausländischer Familien gestärkt und müßte die Bereitschaft der zweiten Generation zur Hilfe und Pflege der Eltern unterstützt werden“. Diese Bereitschaft aber nimmt ab – genauso wie in der deutschen Bevölkerung. Dann sei es eben „Aufgabe der stationären Altenhilfeeinrichtungen, auch die Voraussetzung für eine Versorgung von älteren Ausländern zu schaffen“. Davon aber ist nichts zu sehen.

Nach Berechnungen des Innenministeriums müßten bereits in sechs Jahren ungefähr 20.000 Plätze für AusländerInnen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen zur Verfügung stehen, fast 60.000 Menschen müssen psychiatrisch behandelt werden. Das aber bedeutet: Eine komplette Umstrukturierung der Betreuungsangebote ist überfällig.

Alarmiert sind bisher jedoch nur die Einrichtungen der Ausländersozialarbeit. „Wir können einfach nicht mehr daran vorbei, daß immer mehr alte Menschen kommen“, sagt Mechthild Gottbrath. Ähnliche Erfahrungen machen die Wohlfahrtsverbände. Besonders die Arbeiterwohlfahrt wurde früh aktiv und richtete schon vor Jahren die ersten Begegnungsstätten für ausländische Rentner unter anderem in Berlin, Bielefeld und Dortmund ein; seit kurzem gibt es auch in Mannheim ein Begegnungszentrum. Das Deutsche Rote Kreuz beginnt gerade mit dem Bau eines Altenheims für AusländerInnen in Duisburg – hat aber noch keine einzige Anmeldung.

Gottbrath zählt auf, was nötig wäre: Schulungen des Personals in Pflege- und Altenheimen über den ethnischen Hintergrund der alten Menschen und gezielte Ausbildung von Pflegekräften aus den Herkunftsländern der Alten. Die Essensanbieter auch der ambulanten Dienste müssen sich umstellen. Es fehlen Angebote an Literatur, Ton- und Videokassetten in den Muttersprachen und eine gezielte Gesundheitsarbeit.

Besonders wichtig aber erscheint den Fachleuten die – naheliegende – Einbeziehung der „ethnischen Selbsthilfepotentiale“, so Dietzel-Papakyriakou, also: „verwandtschaftliche Netzwerke, religiöse und kulturelle Selbstorganisationen und Vereine“. Sie schlägt auch vor, die häufig isoliert lebenden Menschen gezielt durch Streetworker zu betreuen, zum Beispiel die alten Frauen in den Grünanlagen der Wohngebiete aufzusuchen.

„Wir versuchen hier, uns nach den Bedürfnissen der Frauen zu richten“, sagt Mechthild Gottbrath von Bacim. „Da mußten wir auch umlernen.“ Zum Beispiel fänden Deutschkurse bei den Türkinnen, die zu Bacim kommen, wenig Anklang. Die alten Frauen seien müde, zu müde, um die fremde Sprache noch zu lernen. Aber es ist nicht nur das: Wie alle alten Menschen auf der Welt wenden sie sich wieder der Vergangenheit zu, der Welt ihrer Kindheit, ihrer eigenen Sprache und Kultur.

„Wenn wir den Frauen ihren Raum geben können“, schwärmt Hanen Bucioglu, „dann beginnen sie aufzuleben. Sie reden offen über alles. Und wenn wir uns darauf einlassen, wenn wir sehen, wie sie sich bewegen, wie sie tanzen, wenn wir versuchen zu verstehen, was sie von früher erzählen, dann können wir viel lernen und selbst von ihrem Wissen profitieren.“