Sechs Stunden im Entengang

Etwa 2.000 Atomkraftgegner und -gegnerinnen haben gegen den geplanten Castor-Transport nach Gorleben demonstriert  ■ Aus dem Wendland Jürgen Voges

Endlich hat auch Susanne Kamien Zeit sich zu setzen. Nur ein paar Minuten. „Der Tag war ein Erfolg“, sagt die rothaarige Vorsitzende der Bürgerinitative Lüchow-Dannenberg. Der Spaziergang ist seit zwei Stunden zu Ende. Im Hinterzimmer des Gasthofes sitzen Einheimische zusammen und planen, wie es denn nun weitergehen soll.

Einige Kilometer weiter in einem anderen Kneipensaal, der schon mit Adventsgrün geschmückt ist, stellen die Auswärtigen die Mehrheit. Auch sie debattieren die Möglichkeiten und Risiken der nächsten Woche. Daß sich 2.000 Menschen vom kurzfristig verhängten Demonstrationsverbot nicht haben schrecken lassen: Das ist der Erfolg, von dem Susanne Kamien spricht. „Das hat Mut gemacht, das bunte Bild der Demonstration hat die Furcht vor der Kriminalisierung schwinden lassen“, sagt ein Sprecher der BI vor den Auswärtigen. Schließlich ermittelt auch die Bundesanwaltschaft.

Die Bahnstrecke, um dies es ging, schlängelt sich von Pudripp aus gut zwölf Kilometer durch die bewaldeten Hügel vor Dannenberg, mal über Bahndämme, mal durch Schneisen. Sie führt nach Uelzen, ist nur eine, wenn auch die kürzeste Bahnverbindung, auf der der Castor in dieser Woche kommen kann. Sie endet am Dannenberger Ostbahnhof kurz vor jenem Kran, mit dem der 120 Tonnen schwere Behälter von der Schienen auf die Straße umgeladen werden soll.

Frauen und Männer im Rentenalter hatten sich an den Sammelpunkten eingefunden, auch ganze Schulklassen, vor allem die Mittelstufen der Gymnasien in Lüchow und Dannenberg sind kräftig vertreten. Auf der Bundestraße 191, die parallel zur der Bahnlinie verläuft, waren etwa sechzig Traktoren meist samt Anhängern unterwegs. Frauen, und manchmal auch Männer marschierten mit, die am Treffpunkt ihre Kinderwagen im Auto verstauen mußten, bevor sie sich auf den kilometerlangen Weg auf den Bahngleisen machten. Im Entengang auf den Bahnschwellen, die für einen Schritt zu kurz und für zwei zu weit nebeneinander liegen, legten etwa dreihundert besonders Beharrliche sogar die gesamte Strecke von Pudripp bis zum Ostbahnhof zurück.

An allen Treffpunkten informierte die Bürgerinitiative zunächst über das Demonstrationsverbot, das nach dem Willen von Kreisverwaltung und niedersächischer Landesregierung nicht nur für den Samstag, sondern auch gleich für Dienstag bis Freitag dieser Woche gelten soll. „Alle hatten für sich selbst zu entscheiden, ob sie unter diesen Umständen noch auf die Gleise gehen sollten“, sagt Susanne Kamien.

„Jetzt erst recht“, war die Antwort. Ein beinahe sechsstündiges Katz- und Mausspiel mit der Polizei hatte begonnen. „Ein schöner Samstagsspaziergang, der durchaus Möglichkeiten bot, kreativ zu werden“, wie es der 22jährige Einzelhandelskaufmann Sebastian aus Husum ausdrückt. War die Polizei nahe, zogen die Gruppen auf der Strecke weiter, war die Gelegenheit günstig, errichteten sie immer wieder Barrikaden von Baumstämmen. Bahnschwellen wurden gelöst oder Schienen unterhölt. Vier Telgraphenmasten fielen der Säge zum Opfer. Zweimal lagen brennende Strohballen auf den Schienen. Die Polizei, die als eine Art Räumtrupp hinterher zog, mußte 23mal „Strohballen, Baumstämmen, Wellbleche und Kilometersteine“ beiseite räumen.

Auf der Bundestraße waren es die Bauern mit ihren Gespannen, die Strohballen, Sand und auch Balken zur Blockade abkippten. „Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit“, sagt der Polizeisprecher, habe man darauf verzichtet, das Demonstrationsverbot vollständig durchzusetzen. Dennoch bedurfte es am Nachmittag der Vermittlung einer Gruppe von Pastoren, um am Ende noch eine gemeinsame Abschlußkundgebung im strömenden Regen am Dannenberger Ostbahnhof möglich zu machen. Den Knüppel ließen die Polizisten stecken. Als sie drei Hamburger Busse durchsuchen wollten, ließen das die Insassen nicht zu.

Aus den Plänen, die in den Kneipen rund um Gorleben geschmidet wurden, sind durchaus Aktionen erwachsen. Etwa 150 Castor-Reisende bestiegen am Sonntag den Zug von Dannenberg in Richtung Lüneburg. Da wurde ihnen so schlecht, daß sie die Notbremse zogen, schließlich fuhr der Bundesgrenzschutz mit. Danach wurde der „Castor von der Straße geputzt“ — mit Schmierseife auf der Fahrbahn. Bevor am Dienstag um null Uhr erneut ein Demonstrationsverbot gilt, will man noch einmal vom Recht auf öffentlichen Protest Gebrauch machen. Am Montag findet am Zwischenlager um 21 eine Protestkundgebung statt: Bis 23 Uhr 59 soll sie dauern.