Radioaktivität auf Abwegen

■ Cäsiumquelle verstrahlt in Estland eine ganze Familie

Stockholm (taz) – Mit verbrannten Händen und schweren Strahlenschäden liegt der 13jährige Rain in einer Kinderklinik der estnischen Hauptstadt Tallinn. Vor zwei Wochen war sein Vater gestorben, kurz danach der Hund der Familie: Opfer einer tödlichen Strahlendosis. Die Quelle fand die Polizei nach einer Evakuierung des halben Dorfes Kiisa im Haus, in dem Rain wohnte: einen drei Zentimeter langen Metallzylinder, der Gammastrahlung des Cäsium- Isotops 137 mit einer Leistung von 150 Röntgen pro Stunde abgab. Laut Christer Viktorsson vom staatlichen schwedischen Strahlenschutzinstitut (SKI) eine „lebensgefährliche Strahlung, millionenfach höher als die natürliche Hintergrundstrahlung“.

Die Strahlenquelle – sie dient in der Industrie zur Durchleuchtung von Schweißnähten oder zur Messung der Stärke verschiedener Metalle –, stammt nach Vermutungen der Polizei aus der in der Nähe von Kiisa liegenden Metallfabrik EMEX. Wie sie in das Wohnhaus gelangte, ist unbekannt. Hergestellt werden solche Strahlenquellen in Forschungsreaktoren. Sie müßten normalerweise in Bleibehältern gesichert und unzugänglich aufbewahrt werden.

Aus Estland sind in letzter Zeit wiederholt Meldungen über „außer Kontrolle“ geratene radioaktive Materialien gekommen. Ein Sprecher des estnischen Katastrophenschutzes sagt, seit dem Abzug der russischen Truppen werde mindestens einmal wöchentlich teilweise stark strahlendes radioaktives Material gefunden: auf Müll- und Schrottplätzen und auch mitten im Hafen von Tallinn. Vor drei Wochen waren auf einer aus Estland kommenden Schiffsladung mit Schrott in einem schwedischen Hafen starke Cäsiumstrahlung gemessen worden. Westliche Strahlenschutzexperten kritisieren auch die unzureichenden Sicherungsmaßnahmen beim Abriß der beiden Übungsreaktoren auf der ehemaligen russischen Marinebasis Paldiski. Estland scheint außerdem Transitland für alle Arten radioaktiven Materials aus Rußland geworden zu sein. Reinhard Wolff