Prüfsiegel für Katastrophen

Klassifizierungsgesellschaften sollen die Seetüchtigkeit von Schiffen kontrollieren. Aber gegen Bargeld drücken sie sämtliche Augen zu  ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff

Tanker brechen auseinander, einer Fähre fällt plötzlich die Bugklappe ab – für die meisten Schiffsunfälle sind schwere technische Mängel verantwortlich, die erst entdeckt werden, wenn alles zu spät ist. Eigentlich soll es ganz anders sein. Schiffe werden regelmäßig von „Klassifizierungsgesellschaften“ kontrolliert, deren Zertifikat eine Voraussetzung für den Betrieb überhaupt ist.

Wie einfach es aber ist, solche Bescheinigungen zu bekommen, hat jetzt ein schwedischer Journalist aufgedeckt: Jede Rostlaube kommt durch die Kontrollen, wenn man mit genügend dicken Dollarbündeln winkt. Als bestechlich erwies sich auch ein Inspekteur der französischen Klassifizierungsgesellschaft „Bureau Veritas“, die der Unglücksfähre „Estonia“ das Seetauglichkeitszeugnis ausgestellt hatte.

Kurz nach dem Untergang der „Estonia“ reiste der Journalist des schwedischen Rundfunks nach Polen. Im Gepäck hatte er Visitenkarten, die ihn als Repräsentanten einer schwedischen Reederei auswiesen, und Schiffspapiere von zwei schrottreifen Tankern. Den einen hatte die schwedische Seesicherheitsbehörde mit Betriebsverbot stillgelegt, dem anderen stand dieses Schicksal kurz bevor.

Bei einer führenden Reparaturwerft in Szczecin winkte der Agent mit einem Reparaturauftrag. Es dürfe aber nicht zu teuer werden. Ob man ihm denn eine „flexible“ Klassifizierungsgesellschaft nennen könne?

Die Werft konnte. Im Hotelzimmer empfing der Reporter einen Inspektor der staatlichen polnischen Klassifizierungsgesellschaft. Er zeigte ihm die Schiffspapiere, erläuterte den Umfang der Schäden. Ob man den Rost nicht einfach mit Farbe überstreichen könnte? Und ob das mit dem Klassifizierungszertifikat nicht trotzdem klargehen könne?

Es ging. Die Gegenleistung bestand in einem Beratungshonorar in Höhe von fünf Prozent des angeblichen Reparaturauftrags, der auf etwa eine Million Dollar geschätzt wurde. Einverstanden, der Inspektor sprach von „normal“, es werde keine Probleme geben.

Ob man denn statt des Zertifikats der polnischen Gesellschaft nicht auch ein Papier der angesehenen norwegischen „Norske Veritas“ haben könne, die sich in Polen durch die polnische Klassifizierungsgesellschaft vertreten läßt? „No problem“ auch das. Im lettischen Riga war ein Vertreter der russischen Klassifizierungsgesellschaft gegen Dollar sogar bereit, jedes Schiff, auch ohne es gesehen zu haben, mit einem Zertifikat auszustatten.

Nun wandte sich der Journalist an das „Bureau Veritas“. Er traf ebenfalls in Szczecin einen Vertreter der französischen Klassifizierungsgesellschaft. Auch dieser Kontrolleur zeigte sich verständnisvoll. Mehr noch: Sein Chef sehe das ebenso. Wörtlich: „Es ist ja Ihre Reederei, die bezahlt, da ist es üblich, flexibel zu sein.“

Bengt Stenmark, Chef der schwedischen Seesicherheitsbehörde, hat das Ergebnis dieser Recherchen „letztendlich nicht überrascht“, wie er sagt. „Sieht man, welche Rostlauben Zertifikate erhalten, dann ist es klar, daß da seit langem viel im argen liegt.“ Das Klassifizierungssystem werde aber international nicht in Frage gestellt: Die übereinstimmenden Geschäftsinteressen der Reedereien, der Klassifizierungsgesellschaften und der Wirtschaft halten das System am Schwimmen. Auch wenn die Schiffe sinken.

Vor drei Wochen legten die dänischen Seefahrtsbehörden einen russischen Frachter unter panamesischer Flagge still. Das Schiff war „das Schlimmste, was wir seit langem gesehen haben“, sagt die Behörde. Der Rumpf war durchgerostet, Löcher im Schiffsboden mit Zement ausgebessert. Ein Vertreter der Botschaft Panamas, der von den dänischen Behörden zur Besichtigung bestellt wurde, bewertete das Wrack als „reif zum Verschrotten“. Aber jetzt legt die Reederei ein gültiges Zertifikat vor. Jan Jacobson, Vertreter der Internationalen Transportarbeiterföderation, die sich um die Besatzung des Schiffes kümmert: „Ich konnte es nicht glauben, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen: Ein Zertifikat der kroatischen Klassifizierungsgesellschaft mit Datum vom 17. November 1994.“

Daß aber auch sehr angesehene Klassifizierer wahre Seelenverkäufer auslaufen lassen, bewies eine Reportage des norwegischen Rundfunks: Vier von der angesehenen „Norske Veritas“ geprüfte Schiffe stehen auf der „Rostlauben“-Liste, die europäische Häfen inzwischen selbst anlegen. Nur das norwegische Veritas-Siegel war neu, die massiven technischen Mängel und Rostschäden dagegen schon ziemlich alt.