"Wir Ossis verlieren doch immer"

■ Die geplante Fusion mit dem Virchow-Krankenhaus im Westteil bewirkt bei den Mitarbeitern der Charite - vom Arzt bis zur Schwester - vor allem Angst / Die Resignation ist mindestens genauso groß wie der...

Über einem völlig verrosteten Briefkasten hängt ein Schild: „Direktorat Technik / Abteilung Werterhaltung / Bereich Baudurchführung“. Obwohl es noch aus DDR-Zeiten zu stammen scheint, beschreibt es die Lage zutreffend: Werterhaltung ist an den bröckelnden Backsteinmauern der Charité-Altbauten in Berlin-Mitte dringend angesagt.

Der Trakt, in dem früher die Innere Medizin untergebracht war, steht seit 1989 leer. Die Eingangstüren sind mit Brettern vernagelt, die Fenster von einem dicken Schmutzfilm überzogen, einige sind zerbrochen. Aus dem obersten Stockwerk hängen Schläuche aus einem Fenster. Zu hören ist das einsame Hämmern eines Handwerkers. Die Sanierung der Gebäude ist zwar beschlossene Sache, doch der Baubeginn ist noch nicht abzusehen.

Um die Werterhaltung machen sich die MitarbeiterInnen der Charité seit Monaten Sorgen. Die von CDU- und SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses betriebene Fusion der Uniklinika Rudolf Virchow und Charité haben das Haus in Alarmstimmung versetzt. Unter dem Dach der Humboldt-Universität sollen 1997 zunächst die beiden medizinischen Fakultäten vereinigt werden, im Jahr 2000 soll dann das Rudolf-Virchow-Klinikum der Charité „zugeordnet“ werden. Der gemeinsame Name lautet dann Charité.

Auf dem Dach des Bettenhochhauses weht wieder die schwarze Fahne. Es mag an der Erfahrung der letzten Jahre liegen: Die Vereinigung mit dem modernsten Klinikum Europas weckt Ängste, daß die Charité mit ihrem enormen Nachholbedarf an Investitionen ins Hintertreffen geraten könnte. Nicht nur die maroden Altbauten sind sanierungsbedürftig, sondern auch das 1982 fertiggestellte Bettenhochhaus. Obwohl der Senat 800 Millionen Mark zugesagt hat, sind viele der 4.555 MitarbeiterInnen verunsichert.

„Heute morgen kam eine Kollegin weinend zu mir und fragte mich, was nur aus ihr werden soll, wenn ihr befristeter Vertrag nicht verlängert wird“, sagt Joachim-Michael Müller, Leiter der chirurgischen Abteilung. Außer ihm hat nur ein weiterer Arzt der Abteilung einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Drei Viertel der 980 WissenschaftlerInnen im Haus haben eine befristete Stelle. „Der Senat hat immer darauf gedrängt, daß die Verträge nicht für fünf, sondern für höchstens drei Jahre abgeschlossen werden“, erläutert die Pressesprecherin der Charité, Marlies Scheunemann. „Für einen sehr großen Kreis laufen die Verträge 1996 aus.“ Da beruhigt es niemanden, wenn der Regierende Bürgermeister Diepgen in einem Schreiben versichert, daß wegen der Fusion niemand entlassen wird. Denn MitarbeiterInnen, deren Vertrag ausläuft, braucht man nicht zu entlassen.

„Ärger und Resignation nehmen in meiner Abteilung zu“, sagt eine 44jährige Fachärztin, die mit drei Packungen Lebkuchen aus dem Lebensmittelgeschäft im Parterre des Bettenhochhauses kommt. Der „Dauerbrenner“ Fusion ermüdet. „Ein paar mal dachten wir schon, daß das vom Tisch ist.“ Auch wenn sie noch nicht abschätzen kann, wie sich die Fusion auf ihren Arbeitsbereich auswirken wird, befürchtet sie, „daß es mit der Charité den Bach runtergeht“.

Unter den Studierenden herrscht eine „emotional gefärbte Ablehnung“ der Fusion vor, meinen Christiane und Andreas. Die beiden 23jährigen kommen gerade aus dem Hörsaal. „Die Charité steht für eine praktische Berufsausbildung, für Medizin als Handwerk“, sagt Christiane. An der Ausbildung im Westen kritisiert sie „das theoretische Faktenlernen ohne Zusammenhänge“. Auch die Stimmung unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern ist „frustriert und deprimiert“. Viele würden sich als Opfer sehen. „Die wissen, sie sind die Ossis und verlieren ihren Job. Das ist ein Erfahrungswert.“

Am Rande des Charité-Geländes liegt die Kinderklinik, direkt an der S-Bahn-Trasse. Wo jetzt noch die gelben Züge vorbeirattern, wird in wenigen Monaten der ICE langdonnern. „Eigentlich sollen dort dann gar keine Patienten mehr untergebracht sein“, sagt Gerhard Gaedicke, Leiter der Kinderklinik. Der Mann, der aus dem Westen kam, macht alles andere als einen fröhlichen Eindruck. Schon wegen der dramatisch sinkenden Geburtenzahl im Ostteil der Stadt müsse man über eine Zusammenarbeit mit dem Virchow- Krankenhaus nachdenken, meint er, ob die Fusion kommt oder nicht. Wenn nicht genug kritische Masse – er meint damit genügend Patienten – da sei, könne man keine gute Forschung machen. Gaedicke befürchtet, daß beide Kliniken „in der Mittelmäßigkeit versinken“, wenn sie sich gegenseitig das Wasser abgraben, anstatt zu kooperieren. Es gäbe Überlegungen, die Kinderklinik ans Virchow- Krankenhaus zu verlagern. Wie seine MitarbeiterInnen darauf reagieren, beantwortet er mit einem Wort: „Angst“. Eine Krankenschwester mit grauem Pagenkopf dagegen lacht beim Stichwort Fusion. „Wir reden da nicht viel drüber. Wir haben schon so viel an Unsicherheit und Hin und Her erlebt, daß wir das jetzt auf uns zukommen lassen. Wir haben unsere Ost-Gelassenheit. Die Wessis regen sich mehr auf.“

Wohl wahr. Zwar ist die Ablehnung der Fusion quer durch die Berufsgruppen einhellig, doch zu den heftigsten Widersachern zählen einige West-Professoren, die erst vor kurzem an die Charité berufen wurden. Sie fühlen sich um ihre hochfliegenden Pläne betrogen. „Ich wollte hier eine Superklinik aufbauen“, sagt Chirurg Müller. „Aber dafür brauchen Sie hochmotivierte Mitarbeiter. Wie wollen Sie von jemand Topleistung verlangen, wenn die Zukunft völlig unklar ist?“ Der Mann in der grünen OP-Kluft hatte schon Politiker wie Oskar Lafontaine unter dem Skalpell. Er ist überzeugt, „daß es einen klaren, politischen Willen gibt, den Standort Charité zu vernichten“. Die Folgen der Fusion schildert er plastisch: „Sie nehmen einen funktionierenden Organismus und hacken ein Teil raus.“

Müller, der am Original- Schreibtisch von Ferdinand Sauerbruch sitzt, dem Begründer der Thoraxchirurgie, will sich nicht nachsagen lassen, nichts gegen die Talfahrt seiner Abteilung unternommen zu haben. „Wenn schon, dann will ich mit fliegenden Fahnen untergehen.“

Im Konferenzsaal der Abteilung sind die Marmorbüsten von etwa 20 berühmten Chirurgen, die an der Charité gewirkt haben, entlang der Fensterfront aufgereiht. Müller nennt sie „meine Ahnengalerie“. Das Ende des langgestreckten Raumes bedeckt ein Wandgemälde längst vergangener Zeiten. Es zeigt die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im Jahre 1827, eine Riege alter Herren mit Vollbart.

Die ruhmreiche Tradition der Charité wird in diesen Tagen viel beschworen. Die Fusion wird vor allem als Frontalangriff auf ihre Identität und Eigenständigkeit verstanden. „Unser Name geht an das Virchow-Krankenhaus!“ empört sich ein Flugblatt. „Schäbig“ findet das Kinderarzt Gaedicke. „Damit wird man beiden nicht gerecht“, meint er und plädiert dafür, den Kliniken ihren Namen zu lassen. Sein Kollege Müller drückt es polemischer aus: „Können Sie an den Reichstag das Schild ,Hilton Hotel‘ hängen?“ fragt er. „Natürlich können Sie!“

Das Gerücht, daß 400 Betten ans Virchow-Krankenhaus verlagert werden sollen, hält sich hartnäckig. Es nährt die Befürchtung, daß die Charité schleichend abgewickelt werden soll. Eine Anfrage der Senatsverwaltung für Wissenschaft ergibt: „Es gibt lediglich Überlegungen, für die Dauer von Bauarbeiten an der Charité zeitweise 150 bis 180 Betten ans Virchow auszulagern und dabei ausschließlich das dazugehörige Personal der Charité einzusetzen.“ Doch diese Linie stößt beim Virchow-Krankenhaus, wo man die Betten am liebsten behalten würde, auf Widerstand.

Die Beharrlichkeit, mit der die MitarbeiterInnen am traditionellen Standort der Charité in Mitte festhalten, ist Ausdruck starker corporate identity. Doch FU-Mediziner Klaus Hierholzer formulierte einmal treffend: „Der Geist der Charité sitzt nicht in ihrem Gemäuer.“ Dorothee Winden