Hier ist jeder der, der er ist

In einem Restaurant und einem Secondhand-Laden der Evangelischen Stadtmission treffen sich Obdachlose und Lebenskünstler aller Art  ■ Von Noäl Rademacher

Wer zu später Stunde dem Kurfürstendamm bis fast zu seinem Ende folgt, stößt mit etwas Glück auf ein Etablissement, das unter Charles-Bukowski- und Jack-Kerouac-Lesern eigentlich längst Kultstatus erreicht haben müßte. „Wohlschmeckende Mahlzeit ab 2 Mark“ lockt unauffällig ein Schild an der Tür.

An der Theke sitzen auf mannshohen Barhockern graumelierte Herren mit Aktenkoffer und korrekter Bügelfalte neben filzhaarigen Hippies. Gemeinsam kauen sie an Schmalzbroten, die der Wirt für 40 Pfennig direkt in die Hand schmiert. In der Mitte des Raumes sitzen sich zwei Schachspieler gegenüber. Mit verbissenem Blicke starren sie auf das Brett.

Weiter hinten, in einer ruhigen Nische des Raumes, fällt spärliches Licht auf zusammengesunkene Körper. Die Köpfe unterm Mantelkragen versteckt oder auf die harte Tischplatte gelegt, schlafen da einige. In der Glasvitrine hinter ihnen reihen sich Bücher auf: Raymond Chandler neben Ernst Jünger. Dieser Schlupfwinkel der Lebenskünstler aller Art trägt den schmucklosen Namen „City-Station“ und ist Teil eines Obdachlosenprojekts der Evangelischen Berliner Stadtmission.

Während Barkeeper Ulrich, jahrelang Sozialarbeiter in der Stadtmission, seinen Gästen Zitronentee einschenkt, erläutert er das ehrgeizige Projekt: „Man muß kein sozialer Härtefall sein, um zu uns zum Essen zu kommen. Ganz im Gegenteil: Wir wollen eine Begegnungsstätte für Menschen aus allen sozialen Milieus sein.“ Um niemandem das Gefühl der Abhängigkeit von diakonischer Mildtätigkeit zu geben, wird für alle Speisen und Getränke (außer dem Zitronentee) ein geringer Betrag verlangt. „Den Menschen wird so ein Stück ihrer Würde wiedergegeben, die sie auf dem Sozialamt und auf der Parkbank verlieren“, meint Ulrich.

Die „City-Station“ ist nur die erste Anlaufstation für Hilfesuchende. Ein Team aus vier Sozialarbeitern und einem Zivildienstleistenden bieten darüber hinaus umfassende Hilfestellung an. So wird Obdachlosen beispielsweise die Möglichkeit geboten, eine Sozialwohnug zu beziehen. Mit begrenzter sozialpädagogischer Betreuung soll dann die Selbstverantwortung wiedererlernt werden. „Wir wollen hier niemanden zum bloßen Fürsorgeempfänger erziehen“, sagt Ulrich. Wichtig ist, daß der Wille zum Ausstieg aus der Obdachlosigkeit vom Betroffenen selbst kommt. Zu seinem Glück gezwungen wird niemand. „Wer nur zum Tee vorbeikommt, ist genauso willkommen.“

Ernst, der Zeitungsverteiler, hat nach langen Jahren auf der Straße jetzt eine Sozialwohnung bezogen. „Das Leben auf der Straße bietet ideale Möglichkeiten zur Verdrängung von Problemen. Der tägliche Überlebenskampf ließ mir keine Zeit für eine Auseinandersetzung mit mir selbst.“ In den ersten Tagen allein in der neuen Wohnung hatte er das Gefühl, in ein Loch zu fallen. Erst allmählich gewöhne er sich an das Gefühl, mit sich allein zu sein.

Stammtischthema in der „City- Station“ ist die Wettervorhersage. Mit Sorge bereitet man sich auf den kommenden Winter vor. „Letztes Jahr haben wir eine spontane Notaktion gestartet“, erzählt Ulrich. „Bei Nächten mit Temperaturen unter null Grad fuhren wir mit unserem Bus durch durch die Stadt und haben Leute von der Straße geholt.“ Die Mitarbeiter der Stadtmission befinden sich dabei in einer Zwickmühle: „Wir haben eigentlich nicht vor, die Aufräumarbeit des Staates zu übernehmen. Aber sollen wir die Leute erfrieren lassen? Ihnen zu helfen, gebietet einfach die Nächstenliebe.“

Die Obdachlosigkeit in Berlin hat sich in den letzten vier Jahren von 6.300 auf 12.000 Menschen etwa verdoppelt. Ein großer Teil kommt aus den neuen Bundesländern. „Berlin gilt innerhalb Ostdeutschlands als eine Art Wohlstandsinsel“, meint Sozialarbeiterin Karen von der Stadtmission. „Viele, die in ihren kleinen Gemeinden durch das soziale Netz gefallen sind, kommen nach Berlin in der Hoffnung, hier Unterschlupf zu finden.“

Das neueste Projekt der Stadtmission ist der kleine Secondhand- Laden „Komm und sieh“ gleich neben der „City-Station“ in der Joachim-Friedrich-Straße. Hinter dem Verkaufstresen stehen Obdachlose und Sozialarbeiter, die Kundschaft sind die Anwohner aus der Umgebung. So wird der Laden, in dem man vom Buch bis zur Couchgarnitur alles bekommen kann, zum Treffpunkt zwischen Leuten, die sich sonst nur beim Betteln in der U-Bahn gegenüberstehen. Die Vorurteile auf beiden Seiten sollen hier nach und nach abgebaut werden. Die Anwohner, die bislang einen großen Bogen um die „City-Station“ gemacht haben, verlieren langsam ihre Berührungsängste und kommen in den Laden, um zu reden und auch um ein Schnäppchen zu machen.

Heinz, einst gutbezahlter Manager eines Chemie-Konzerns, erzählt interessierten Kunden freimütig von seinem sozialen Abstieg: vom Tod seiner Frau, der ihn völlig aus der Bahn warf und ihn seine Trauer im Alkohol ertränken ließ, vom Rausschmiß aus der Firma und aus der Wohnung. Es folgten Jahre auf der Straße, während denen er „nicht mehr wert war als ein Fußabtreter“. Die City- Station sei der erste Ort gewesen, wo man ihn wieder als Menschen behandelt habe. „Schau dich um, hier wird jeder für das genommen, was er ist“, sagt er und zeigt mit seinem Schmalzbrot in die Runde.

Später am Abend tritt wie zu seiner Bestätigung eine alte Indianerin in rotem Filzgewand in das Lokal. Ein leuchtendes Stirnband ziert ihren Kopf, das schwarzgraue Haar trägt sie zu zwei mächtigen Zöpfen geflochten. Die zahlreichen Begrüßungen mißachtend, steuert sie geradewegs auf den Wirt zu, beugt sich zu ihm über die Theke und bittet in bayrischer Mundart um eine „Weißwurscht“. Als hätten die übrigen Gäste nur auf dieses Stichwort gewartet, entspinnt sich eine angeregte Diskussion über die Qualität von Berliner Weißwürsten. Schließlich ist es die Indianerin aus dem Allgäu, deren fachmännisches Urteil die Männer verstummen läßt: Die Wurst niemals mit Sauerkraut servieren!