Indiens drittes Geschlecht

Im Bundesstaat Delhi wurde Eunuchen ausdrücklich das Wahlrecht gewährt / Die „Hijras“ bilden eine Kaste von Ausgestoßenen, denen dämonische Kräfte zugeschrieben werden  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Der Erfolgsautor Khushwant Singh – eine derbe indische Version von Norman Mailer – vergleicht in seinem Roman „Delhi“ Indiens Hauptstadt mit einem „Hijra“: gleichzeitig männlich, weiblich und keins von beidem; verstümmelt, gefährlich, abstoßend und anziehend in einem. Hijra ist der lokale Name für die vielleicht absonderlichste der zahllosen Kasten des Landes, den Eunuchen: Männern, die kastriert worden sind oder die ohne ihre Geschlechtsorgane auf die Welt kamen. Ein bemitleidenswertes Los, um so mehr, als derartige Defekte in Indiens erbarmungslosem Kastendenken den sofortigen sozialen Ausstoß mit sich bringen.

Die Ächtung der Hijras hat allerdings ihren Preis: Es ist die weit verbreitete Angst vor ihren magisch-dämonischen Kräften – ein Ruf, mit dem wiederum die Hijras ihr Überleben sichern. Die Angst beginnt gleich bei der Geburt. Bei jedem neugeborenen Knaben fragt sich die Familie voller Bangen, ob wohl die Hijras vorbeikommen werden. Und wenn sie dies tun, muß ihnen Einlaß gewährt werden, und ihre gepuderten und geschminkten Gesichter beugen sich dann über den Kleinen, um zu prüfen, ob sein Geschlechtsinstrumentarium i.O. ist. Sonst, so heißt es im Volksmund, dürfen sie das Kind mitnehmen. Dies ist natürlich praktisch nie der Fall, aber der Zweck ist erfüllt: Die in grelle Saris gekleideten robusten Körper müssen eingelassen werden, sie tanzen im Hof, das Kind wird mit guten Wünschen überschüttet – und sie selber mit Rupie-Noten.

Dasselbe geschieht, wenn eine Familie in ein neugebautes Haus einzieht. Ranjan Gupta, ein Software-Ingenieur, weiß schon jetzt, wie er sich verhalten wird, wenn er nächstens umzieht. „Ich bin überzeugt, daß die Hijras genau am Umzugstag zur Stelle sein werden – die haben ihre Beziehungen zur Baubehörde ebenso wie zu den Entbindungsstationen der Spitäler. Selbstverständlich werde ich ihnen Geld geben.“ Die soziale Randlage hat die Hijras in die Kleinkriminalität getrieben, und die Angst vor dem bösen Blick sichert ihnen eine weitgehende Immunität vor der Polizei. Laut Schätzungen liegt ihre Zahl bei rund 100.000. Sie operieren in allen größeren Städten des Landes, meist in kleinen Gruppen, die größeren Banden unterstehen und einem Guru folgen. Dieser kontrolliert ein bestimmtes Territorium und lebt von dem, was man gemeinhin „Erpressung“ nennen würde; in Bombay sollen Gurus auch eine Reihe von Bordellen kontrollieren. Der Guru ist der oberste Rechtsprecher in allen Lebensbelangen eines Hijra, und er ist auch der Zeremonienmeister im grausigen Kastrationsritual. Denn um den Nachwuchs zu sichern, genügen die mit Geburtsdefekten geborenen Mitglieder bei weitem nicht.

Sanjay Sayani, der einen Film über die Hijras gedreht hat, sagt, daß immer wieder junge Männer entführt werden oder daß von zu Hause weggelaufene Burschen überwältigt und mit Drogen gefügig gemacht werden.

Es ist typisch für die indische Gesellschaft, daß sie soziale Gruppen ächtet und sie gleichzeitig achtet – indem sie ihnen anerkannte Funktionen zuweist. Die „anerkannte Kriminalität“ der Hijras gibt diesen selber aber offensichtlich zunehmend Statusprobleme auf. Kharati Lal Bhola, der Präsident der „Gesamtindischen Hijra- Vereinigung“, versucht „seit vielen Jahren, die Hijras aus der sozialen Randstellung zu befreien, unter der sie sehr leiden“.

Als daher kürzlich die Wahlkommission des Bundesstaates Delhi den Hijras das Recht gab, zu wählen, reagierten viele Mitglieder laut der Times of India „begeistert“. Die Verfassung enthält zwar kein ausdrückliches Verbot, aber die Angst vor hämischen Bemerkungen hat wohl die meisten Hijras bisher vom Gang ins Wahllokal abgehalten. Auf die Frage, ob sie dort hinter dem Vorhang für „Männer“ oder für „Frauen“ wählen würden, antworteten die meisten, daß sie sich als Frau fühlten und sich ja auch so kleideten.

Als im letzten Herbst in Delhi ein Internationaler Transsexuellen-Kongreß stattfand und Teilnehmer ungeniert in den Straßen und Parks flanierten, entdeckten Hijras zu ihrer großen Verwunderung, daß es Menschen gibt, die ihre Geschlechtsrolle verändert haben und – Spaß daran haben können.