■ Was die US-Kongreßwahlen wirklich waren
: Späte Rache für 1968

Alle Bilder, die man benutzt hat, um den Ausgang der mid- term-Wahlen zu beschreiben, scheinen mir unzutreffend: Flutwelle, Hurrikan, Taifun, Erdrutsch, Erdbeben, gar Blutbad. Aber viel wichtiger als diese apokalyptischen Verdikte ist der Begriff der „Anpassung“ – sozusagen das Schließen des Kreises –, der in zahlreichen Nachbetrachtungen auf den Wahlausgang fiel. Demzufolge sollen die Wahlergebnisse Beweis der qualitativen Wandlung in der politischen Konfiguration der amerikanischen Wählerschaft sein. Und dies wiederum bedeutet strukturelle Verschiebungen in der Art, wie die Republik regiert werden wird.

Ich behaupte im folgenden: Nichts dergleichen ist der Fall. Dem „Hurrikan“ gingen diverse Turbulenzen in den vergangenen 25 Jahren voraus. Und die „Flutwelle“ scheint doch eher die Kulmination einer konservativen Unterströmung, die seit den Herausforderungen von „1968“ an Amerikas Küste schwappt. Flutwellen sind, auch wenn sie ein machtvolles Phänomen darstellen, ausgesprochen kurzlebig. Wenn alles gesagt und getan ist, wird man denn auch feststellen, daß die Natur amerikanischer Politik und deren Zentrismus (manche mögen dies Immobilismus nennen) wieder einmal nicht grundsätzlich geändert wurden.

1. Weiße Männer wählten in hohem Maße die Republikaner. Auch dieser Trend geht zurück bis in die späten 60er Jahre. Seither haben weiße Männer in allen Wahlen peu à peu die republikanischen Kandidaten vorgezogen. Bill Clinton hat diesen Prozeß verlangsamt, aber nicht aufgehalten. Dennoch hat der legendäre gender gap, der in den USA im Vergleich zu anderen Industriestaaten am pronociertesten ist – wenig damit zu tun, daß Frauen dank des Feminismus politisch progressiver wären. Nein, die Männer (besonders weiße) werden reaktionärer und konservativer, weil sie sich durch die Emanzipation der Frau in ihrer Dominanz bedroht sehen.

2. Der Süden ist wieder in republikanischer Hand. Auch dieser Prozeß begann in den späten 60ern, zuerst auf der Ebene der Präsidenten, doch dann auch im Kongreß und bei den Gouverneuren. Nach Lyndon Johnson (1964) ist es keinem demokratischen Präsidentschaftskandidaten (eingeschlossen die beiden Gewinner Carter und Clinton, beides sicher nicht ohne Zufall Südstaatler) gelungen, den Süden zu gewinnen. Daß in einigen einst monolithisch demokratischen Staaten wie Texas und Tennessee beide Senatoren und der Gouverneur Republikaner sind, ist – auch wenn dies eine Beleidigung für den Tennessean Al Gore sein mag – nichts qualitativ Neues.

3. Die Tatsache, daß bestimmte Amerikaner Steuern und big government hassen und dagegen in äußerst populistischer Weise agieren, hat auch eine sattsam bekannte Tradition. Die erste Revolte der Mittelklasse war jene berühmte „Proposition 13“, mit der via Referendum mehr direkte Demokratie möglich werden sollte.

Von den antisolidarischen Maßnahmen gegen Schwarze und andere „unerwünschte Elemente“ hin zu Volksabstimmungen, wie wir sie in einigen Bundesstaaten bei diesen Wahlen auch erlebt haben: Der Weg ist nicht weit hin zu einer Situation, wo jede Steuererhöhung oder irgend etwas nur unter der Bedingung werden kann, es geschehe per Volksbefragung. Ich sage es meinen radikalen StudentInnen immer wieder: Direkte Demokratie ist nur im Procedere radikal. In der Fragestellung, im Inhalt kann sie ziemlich reaktionär sein. Good guys do lose ...

4. Apropos reaktionär: Es gab nur weniges in letzter Zeit, was widerlicher war als die „Proposition 187“ (wir sind schon bei 191 angelangt, seit es in Kalifornien diesen antiparlamentarischen Ausdruck direkter Demokratie gibt). „187“ wurde auch „Rettet unseren Staat“ genannt und wurde nicht ausdrücklich gebastelt, um „illegale Immigranten“ daran zu hindern, nach Kalifornien zu kommen. Nein, eher will man sie an der Inanspruchnahme öffentlich-sozialer Dienste hindern. In einer besonders zynischen (und absolut uneffektiven) Art und Weise soll dieses Gesetz Krankenhausmitarbeiter, Lehrer und andere Angestellte des öffentlichen Dienstes zu Komplizen des repressiven Staatsapparates machen. Sie sollen nämlich schnüffeln und „Illegale“ melden, damit diese schließlich abgeschoben werden. Wie dies allerdings geschehen soll, wo es in den Vereinigten Staaten keine Personalausweise gibt, bleibt sowieso schleierhaft. „187“ wurde eher konstruiert, um zu stigmatisieren.

Dennoch ist das Gesetzesvorhaben nicht mehr und nicht weniger als eine von vielen Ausdrucksformen in der amerikanischen Politik. Es bleibt ephemer im Kontext amerikanischer Geschichte. Amerika war seit seiner Gründung Ziel und Traum vieler Immigranten. Es wird dies auch bleiben. Viel interessanter ist, daß in Texas und New York, beides Staaten, in denen auch viele illegale Immigranten leben, keinerlei Anti-Immigranten- Ressentiment entstand. „Proposition 187“ war wenig mehr als ein billiger Trick des Gouverneurs Pete Wilson, um wiedergewählt zu werden. Was beweist, daß selbst im Zeitalter der Medien und der Informations-Superhighways die persönlichen Vorlieben der Mitglieder der politischen Klasse einen gewaltigen Unterschied machen.

Und doch: Die Suppe wird nicht so heiß gegessen wie gekocht. Nur zwölf Stunden, nachdem „Proposition 187“ von 59 Prozent der kalifornischen WählerInnen Zustimmung erhalten hatte, ist die ganze Sache vor Gericht gelandet und wird dort einige Jahre bleiben. Natürlich ist der Ton und die Stimmung rund um diese Sache widerlich. Aber wird dies tatsächlich die Politik verändern?

Die gleiche Frage betrifft das „neue“ Arrangement in Washington. Eine geteilte Regierung ist nicht nur sehr normal und häufig anzutreffen im amerikanischen System. Sie ist im eigentlichen Sinne auch genau das, was die Gründungsväter dieses Landes wollten: Eine Regierung mit geteilter Verantwortung, der das Regieren sehr schwer werden soll, vielleicht gar unmöglich. Sicher, die Dinge haben sich nach 40 Jahren um 180 Grad gedreht. Aber ist das eine Flutwelle? Ein Erdbeben? Ein Hurrikan? Schwerlich. Das bleibt den Frankreichs mit ihren fünf Republiken und zwei Kaiserreichen belassen, den Deutschlands und all seinen Inkarnationen, all den Rußlands und Sowjetunionen, selbst den Vereinigten Königreichen. Aber nicht den Vereinigten Staaten, deren politisches System seit über 218 Jahren das gleiche geblieben ist. Ich überlasse es den Vorlieben der Leserinnen und Leser, ob sie dies gut oder schlecht finden. Andrei S. Markovits

Professor am Politikwissenschaftlichen Institut der Universität von Kalifornien, Santa Cruz

Übersetzung: AS