Lob des Schemas

Krieg oder Frieden. Natur oder Kultur. Mann oder Frau. Rationalität oder Intuition. Stammesgesellschaft oder ausdifferenzierte Moderne. Hutu oder Tutsi. Das ist doch viel zu schematisch, das muß man doch hinterfragen, da muß man doch ein wenig differenzieren! Eine fein differenzierte Sonntagspredigt  ■ Von Michael Rutschky

Man sage, in eine beliebige Gesellschaft hinein, irgend etwas Bestimmtes. Sätze wie: „Der Bürgerkrieg in Jugoslawien zeigt, wie rasch die Stammesgesellschaft wiederkehren kann“; oder: „Im Gegensatz zum Westbürger glaubt der Ostdeutsche immer noch an den Staat“; oder: „Die westdeutsche Gegenwartsliteratur fixiert sich auf das Fernsehen“.

Sofort wird sich gegen solche Sätze Widerspruch erheben. Selten durch einfache Umkehrung der Vorzeichen: „Die westdeutsche Gegenwartsliteratur beschäftigt sich viel zuwenig mit dem Fernsehen“; oder: „Das ist doch das Problem, daß die Westdeutschen nicht an den Staat glauben“; oder: „Die Stammesgesellschaft vermeidet solche Schlächtereien wie in Bosnien“.

Nein, der Widerspruch wird sich gegen die Bestimmtheit der Aussage als solche richten. Selten kommt er von der nörgeligen Dame. Mir schwebt ein nachlässig in Cordhosen und Pullover gekleideter Mittfünfziger vor, der sein Geld als Gymnasiallehrer verdient. Sein Widerspruch nimmt die Form an: „Von den Ostbürgern zu sprechen, das ist mir viel zu pauschal; da muß man differenzieren.“

Da muß man differenzieren: Wenn ein Gymnasiallehrer die Parole ausgibt, versteht man gleich die Szene. Tag für Tag wird er mit Schülersätzen traktiert, die solchen Spruchcharakter tragen. Den jungen Menschen zeichnet Meinungsfreude aus: „Wenn Wahlen etwas ändern könnten, wären sie verboten“; oder: „Die Grenzen verlaufen nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen Oben und Unten“; oder: „Atomkraft (oder Deutschland oder Große Koalition oder Heterosexualität) – nein danke“.

Da muß man differenzieren: Indem er diese Parole ausgibt, sucht der Lehrer die jugendliche Meinungsfreude zu sänftigen, weil der junge Mensch sich in ihrem Verfolg in Kämpfe hineinreden möchte, die an Heftigkeit denen der Stammesgesellschaft um ihre Familientotems nahekommen sollen. Im Hintergrund des Lehrerbewußtseins treibt sich die speziell deutsche Erfahrung aus den zwanziger Jahren herum, als jeder eine Weltanschauung besitzen mußte, die Rechts oder Links, Oben und Unten, Vorwärts und Zurück ein für allemal unterschied. Differenzieren war Schwäche – zu deutlich weiß der Lehrer, wie die Geschichte ausging. Seitdem ist Differenzieren Zivilisation.

Freilich sind wir damit schon wieder bei etwas Undifferenziertem gelandet, einem Schema, das Sätze einander gegenüberstellt und Vorzeichen verteilt, negativ wie positiv. Schematismus ist Barbarei, Differenzieren Kultur. (Den Zauber, der in Deutschland mit der schematischen Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation veranstaltet worden ist, lassen wir mal beiseite.)

Unser Freund R., Systemtheoretiker, träumt seit Jahren von einer Zeitschrift, exklusives Korrespondenzblatt für einen festen Abonnentenstamm – Name: Das Schema –, worin er jetzt anläßlich des Schemas Differenzieren/Schematisieren respektive Kultur/Barbarei eines seiner semantischen Feuerwerke abschießen könnte.

Die schematische Gegenüberstellung von Barbarei und Kultur verrate eine Basisoperation unserer kulturellen Kommunikation. Von den Griechen an, die bekanntlich mit „Barbaren“ alle Nichtgriechen bezeichneten. Setze man statt „Barbarei“ „Natur“ ein, sei man bei der Staatstheorie von Thomas Hobbes gelandet, der bekanntlich dem Naturzustand – Kampf aller gegen alle – den Kulturzustand gegenüberstellt, der mit der Staatsbildung erreicht ist; aber der Naturzustand, der Bürgerkrieg, hört nicht auf zu drohen und zu locken (Jugoslawien).

Jean-Jacques Rousseau dagegen mache erkennbar, daß bei der Schematisierung von Kultur gegen Natur das positive respektive negative Vorzeichen vertauscht werden kann. Besetzt bei Hobbes eindeutig der Staat – die Kultur – das Positive, so führt Rousseau bekanntlich den guten Wilden ein, von dem der Kulturmensch sich unwiderstehlich und zu seinem allergrößten Schaden immer weiter entferne. Kultur ist Negation der positiven Natur.

„Und von hier aus können Sie, liebe Leser“, schriebe unser Freund R. begeistert in seinem Korrespondenzblatt Das Schema, „den guten Wilden oder Barbaren über Nietzsches blonde Bestie bis zu den Naturaposteln unserer Tage verfolgen, ja, manchmal frage ich mich, ob gewisse feministische Positionen...“

Jetzt kam aber das Stichwort für unsere zum Nörgeln aufgelegte Dame. Die Frauen als gute Wilde! Oder als blonde Bestien! Da setzte sich doch unverkennbar – was sie als frau, als Betroffene natürlich zuerst bemerkte – der männliche Blick durch, die Männerphantasie. Voller Ambivalenz; „der Mann weiß nicht“, erläutert die Dame überlegen, „ob er uns anbeten oder erniedrigen soll“.

Im übrigen komme ihr auch dies Denken in einfachen Gegensätzen – Kultur/Natur, Mann/Frau – typisch männlich vor. „Es handelt sich um einen binären Code“, nickt begeistert der Systemtheoretiker. – Sie als Frau jedenfalls, erklärt die Dame ungerührt, möchte keinesfalls auf den Schematismus setzen, viel lieber und mit weit mehr Recht auf den unendlichen Prozeß des sich durch seine Differenzen hindurch immer wieder erneuernden Lebens. Fließen statt Schematismus.

Der Systemtheoretiker strahlt. Der Dame entging, wie sie in seine Falle hineinlief. „Da haben wir aber das Musterbeispiel eines binären Codes“, schließt er, „Mann/ Frau, wobei der Mann für Schematismus steht, die Frau für Fließen.“

In den archaischen Gesellschaften, die Rousseau und seine Anhänger für naturnäher hielten, führen zahllose Transformationen des Schemas Natur/Kultur zu dem Schema Mann/Frau. Daß der Mann über Selbstbeherrschung, Rationalität, Aktivität verfüge, die Frau dagegen sich durch Spontaneität, Intuition, Passivität auszeichne, gehörte noch zu den Predigtthemen, die in meiner Jugend eine exaltierte Tante an gemeinsamen Nachmittagen für mich ausarbeitete. Überhaupt hing sie leidenschaftlich dem Grübeln über die Geschlechtsunterschiede an und erklärte das auch gleich für typisch weiblich (während die Männer mehr für das Allgemeine zuständig seien).

Solche Archaismen verschwinden in der modernen Welt nie vollständig. In der Regel aber zeichnet sie sich dadurch aus, daß die Schemata, welche die kulturelle Kommunikation steuern, so frei wie möglich von naturalen Merkmalen gehalten werden. Deshalb spielt die Polarität von Mann und Frau in der modernen Welt so eine geringe Rolle; was männlich, was weiblich sei, darüber können Männer und Frauen in der Öffentlichkeit gleichberechtigt unendlich lange streiten, und „männliche“ Standpunkte können von Frauen ebenso verfochten werden wie „weibliche“ von Männern, weil halt keiner zu sagen wüßte, was naturaliter ein männlicher oder weiblicher Standpunkt wäre.

Zum Vergleich: die Gesellschaft des türkischen Dorfs, wo die Verhältnisse der Geschlechter in der Seinsweise festgeschrieben sind, insbesondere in der Aufteilung des sozialen Raums. Die Männer besetzen die Öffentlichkeit, die Frauen den Innenraum des Hauses – und wenn in der modernen Welt von Frauenemanzipation die Rede ist, kann man das als das zugrunde liegende Schema erkennen: Weg vom türkischen Dorf. Frauen sollen wie Männer in der Öffentlichkeit Redezeit beanspruchen und Positionen besetzen; wir verzichten darauf, den binären Code Mann/Frau auf das Verhältnis von Außen und Innen anzuwenden.

In der modernen Welt werden die Schemata von naturalen Merkmalen befreit – ein Mensch mit nigerianischen Eltern und schwarzer Hautfarbe kann in Deutschland eingebürgert, naturalisiert, wie es heißt, werden. Das ist immer noch kompliziert – und man kann politisch für die Vereinfachung kämpfen –, aber es ist prinzipiell möglich. Das Verhältnis von Innen und Außen der Nation konstituiert sich nicht über den Unterschied der Hautfarbe.

Freilich, weil die gesellschaftliche Kommunikation so stark über Schemata sich abwickelt statt über naturale oder andere Seinsbestimmungen, kann es auch so verführerisch werden, solche Seinsbestimmungen mittels Blutvergießens wieder einzuführen. Alex de Waal, ein Afrikafachmann, interpretiert den Massenmord der Hutu an den Tutsi in diesem Sinne: Weil die Differenz eigentlich verschwindet – wie zwischen Serben, Kroaten, Bosniern –, kommt der Gedanke auf, sie durch Blut zu markieren, und diese Markierung hält besser als alle anderen, die die durch einen Code geregelten Zuschreibungen offen und umkehrbar halten in der modernen Welt. Was seinem Wesen nach ein Hutu ist, erkennt er, indem er einen Tutsi erschlägt.

Welche Kader in unseren Gegenden zu solchem Blutvergießen neigen, um ein für allemal zu definieren, wer Deutscher und wer Ausländer sei, ist bekannt. Daß die Identität dieser Kader durch nichts als solche Untaten gebildet wird, daß einzig dadurch sie sich ihres Deutschtums vergewissern können, erklärt sich auch aus der ungeheuren Faszination, die diese Art von Blutvergießen als Identitätspolitik in der modernen Welt sogleich erregt. Bei jedem Naziaufmarsch sind die Fernsehkameras zur Stelle. Angesichts der verbrannten Türken erkennen wir uns als Deutsche, ob wir wollen oder nicht. So hört die alte Welt nicht auf, mit ihren Archaismen zu drohen und zu locken.