Schranken im Kopf

■ betr.: „Wo sind all die Sexbesse nen?“, taz vom 2. 11. 94

Es ist keineswegs „kurios“, daß wer viel vögelt auch viel onaniert. Kurios ist vielmehr, daß Kirsten Niemann das „kurios“ findet und offenbar annimmt, wer „ohnehin“ viel vögle, brauche nicht zu onanieren. Die Onanie ist mitnichten eine Ersatzhandlung für „richtigen“ Geschlechtsverkehr, sondern eine – im wörtlichen Sinne – selbständige sexuelle Handlung.

Es wäre dringend an der Zeit, die herrschende Sexualideologie auf den Müll zu befördern; im übrigen steht sie auch hinter der zitierten Chicagoer Studie. Sex ist technisiert und wird auf Meßbares hin untersucht: Wie oft treiben sie's denn? Hat sie denn auch immer einen Orgasmus? Dahinter steckt eine tief beischlaf- und orgasmusfixierte Auffassung von Sexualität, die Übles anrichtet, indem sie Leistungsdruck schafft (ohne Verkehr kein richtiger Sex, ohne Orgasmus kein guter Sex) und große Teile der Sexualität ächtet. Dazu gehört insbesondere die Onanie.

Schon immer hat es eine gesellschaftliche Onaniefeindlichkeit gegeben, seit dem 17. Jahrhundert wurde sie wie eine Inquisition betrieben. Unzählige Anleitungen zur Unterbindung der „Selbstbefleckung“ (insbesondere bei Mädchen) zeugen davon. Und noch heute kann man selbst in „Aufklärungswerken“ lesen, daß Selbstbefriedigung verwerflich und bestenfalls eine Ersatzhandlung sei – sie ist nämlich nicht partnerInnenorientiert und bringt damit keinen Nutzen für die Gesellschaft. Tatsächlich schämen sich immer noch viele, daß sie es tun. Und tun tun's praktisch alle oder zumindest würden sie's tun, wären da nicht die Schranken im Kopf. Gerade der hohe Hormonpegel, der durch reges (auch zweisames) Sexualleben verursacht wird, macht Lust auf Liebe an und für sich. Das ist völlig natürlich und nicht kurios (im übrigen durch eine Vielzahl von Studien belegt) und sollte genossen werden. Nils Kaszenski, Osnabrück