Literarische Blauhelme?

Wiederkehr des Engagements: Das Internationale Schriftstellerparlament widmete sich bei seinem Straßburger Treffen der Lage der algerischen Intellektuellen und kritisierte heftig die europäische Asylpolitik  ■ Von Stefan Fuchs und Maria Žagar

Der leere Stuhl des nigerianischen Nobelpreisträgers Wole Soyinka bildete den dramatischen Auftakt der zweiten Tagung des Internationalen Schriftstellerparlaments am vergangenen Wochenende in Straßburg. Gerade so als wollte sie die Bedeutung dieser vor einem Jahr ins Leben gerufenen Institution noch einmal vor Augen führen, hinderte die Militärdiktatur Nigerias den berühmtesten Intellektuellen ihres Landes bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr daran, an den Beratungen des Gremiums teilzunehmen. Die anwesenden Schriftsteller forderten, als Antwort auf diesen Affront eine Delegation renommierter Autoren als eine Art literarische Blauhelme nach Lagos zu schicken. Auch dies ein Beispiel für die Suche nach neuen Formen des intellektuellen Engagements, die das Parlament proklamiert.

Zu einem Ritual der Straßburger Treffen scheint sich das plötzliche Auftauchen des Parlamentspräsidenten Salman Rushdie zu entwickeln, der durch die bizarren Lebensumstände, in die ihn die Fatwa zwingt, zu einem Symbol der Gefährdung engagierter Schriftsteller geworden ist. Er leitete am Samstag die Mahnwache, die den Opfern der Gewalt in Algerien gewidmet war. In einer langen Nacht zeichneten die algerischen Intellektuellen das Bild eines Landes, in dem die Katastrophe nicht mehr bevorsteht, sondern bereits eingetreten ist. Die demokratischen Kräfte Algeriens werden zwischen den Fronten zweier fundamentalistischer Ideologien – dem Totalitarismus der Militärjunta und dem doktrinären Religionsverständnis der Islamischen Heilsfront – zerrieben.

Die verfolgten und ermordeten Intellektuellen sind aber nur wenige im Vergleich zur Anzahl der Opfer, die der Fanatismus in allen Schichten der Bevölkerung fordert. Todesangst ist zu einer Erfahrung des Alltags in Algerien geworden. Der algerische Romancier Mohammed Dib stellte in diesem Zusammenhang die besondere Rolle der Frauen in seiner Heimat heraus. Sie sind bevorzugtes Ziel der Gewalt und erweisen sich dennoch durch ihren außergewöhnlichen Mut als treibende Kraft des Widerstands. In einer Vielzahl von Aktionen und Demonstrationen haben sie ihre Entschlossenheit gezeigt, dem „Männerkrieg“ entgegenzutreten. Der Philosoph Jacques Derrida, Mitbegründer des Komitees zur Unterstützung algerischer Intellektueller (Cisia), ordnete den Fundamentalismus der FIS in den größeren Rahmen patriarchaler Gewalt ein. Derrida forderte zum Verständnis der algerischen Verhältnisse eine „Analyse des Geschlechterkampfes“.

Die von verschiedenen Diskussionsteilnehmern angestrebte Historisierung der Algerien-Debatte läuft darauf hinaus, die schlichte Gegenüberstellung von islamischer und christlicher Welt zu entschärfen. Wie der Politologe Sami Nair betonte, war gerade in Algerien der Einfluß europäischer Wertvorstellungen auf die jeweils herrschenden Eliten besonders nachhaltig. So hat ein auf fünfzehn Jahre zusammengedrängter Prozeß blinder Industrialisierung fast alle eigenständigen kulturellen und politischen Traditionen des Landes zerschlagen, ohne das Versprechen des Reichtums in der Konsumgesellschaft einlösen zu können. Der islamische Fundamentalismus erscheint in diesem Licht ebenso wie der jüngste europäische Rassismus als letzte Ideologie der Deklassierten und Ausgeschlossenen. Die bloße Übernahme europäischer Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle hat das traditionell multikulturelle Algerien, wie es etwa in den Romanen von Assia Djebar und Mohammed Dib festgehalten ist, unwiederbringlich untergehen lassen. Dieser kulturelle Kahlschlag verstärkt heute die politische Durchschlagskraft einfacher Weltbilder.

Sowohl Mohammed Dib als auch Sami Nair beschrieben das gefährliche Spiel, das die staatssozialistische Oligarchie in Algier über Jahrzehnte hinweg betrieb, indem sie die demokratischen Bewegungen des Landes als unvereinbar mit den Wertvorstellungen des Islam diffamierte. Ein Spiel, an dem sich auch der Westen beteiligte, indem er den Fundamentalismus in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion instrumentalisierte.

Eines der Ergebnisse dieser Politik ist, daß algerische Freiwillige, die in Afghanistan auf seiten der Volksmudschaheddin kämpften, heute ihre militärische Erfahrung für den Terrorismus der FIS einsetzen. Dies berichtete der Direktor der unabhängigen algerischen Tageszeitung El-Watan, Omar Belhouchet, der letztes Jahr selbst nur knapp einem Attentat entkam. Die Mahnwache in der Straßburger Oper machte die Gefahr unmittelbar spürbar, die Europa aus dem Maghreb droht. Wenn es in Algerien zur Errichtung einer islamischen Republik nach dem Muster des Iran kommen sollte, wären die Folgen nicht nur für den gesamten Südbogen des Mittelmeeres katastrophal, sondern auch für die industriellen Metropolen der EG.

Die europäische Politik der Abschottung ist nach Meinung der in Straßburg versammelten Intellektuellen eine fatale Strategie angesichts dieser Lage: In einer Resolution, die Rushdie verlas, übten die rund 40 Mitglieder des Schriftstellerparlaments und die anwesenden Gäste, unter ihnen der Generalsekretär des Europarats, Daniel Tarschys, und die sozialistische Straßburger Bürgermeisterin Catherine Trautmann, heftige Kritik an den kürzlich von Frankreich verschärften Einreisebestimmungen für Algerier. Diese Maßnahmen seien „abstoßend“ angesichts der Tatsache, daß sich zahlreiche Algerier in akuter Lebensgefahr befänden. Frankreich solle diese Einschränkungen „unverzüglich“ wieder aufheben, sagte Rushdie unter anhaltendem Applaus. Die Autoren forderten die französische Regierung auf, die Asylpolitik zu lockern statt sie wie bisher zu verschärfen.

Die drängende Auseinandersetzung mit dem Unrecht in den politisch destabilisierten Randzonen der Weltwirtschaft birgt für das Schriftstellerparlament die Gefahr, die ganz andere Problematik unzensierten Schreibens und Redens in den ökonomischen Zentren selbst aus dem Blick zu verlieren. Die Inszenierung eines imaginären Auftritts der bengalischen Schriftstellerin Taslima Nasrin einschließlich der sie verfolgenden Pressemeute durch SchauspielerInnen der Truppe des „ThéÛtre du Soleil“ von Ariane Mnouchkine zeigte jedenfalls den schmalen Grat, auf dem sich das Parlament bei seiner Suche nach neuen und effizienteren Formen des Engagements bewegt. Die hysterische Fetischisierung, mit der die Medien die gefährdeten Autoren überziehen, stellt zweifellos einen mächtigen Schutz dar. Zugleich aber ist es eben diese schrille Medienwirklichkeit, in der die Stimme der Intellektuellen zu verschwinden droht. Um wahrgenommen zu werden, müssen die neuen „dramatischen“ Formen der Stellungnahme mediengerecht sein und überschreiten dabei gelegentlich die Grenze zu falschem Pathos und Sentimentalität. Läuft das Parlament nicht selbst in die Falle der Medien, die es kritisiert, wenn beide Abendsitzungen nach genau geplanten und telegenen Dramaturgien ablaufen? So hob sich am Samstagabend der Vorhang, auf dem die Namen verfolgter Schriftsteller verzeichnet waren, und gab den Blick frei auf eine Abendmahlszene, in der Salman Rushdie als Christus figurierte, der seine Jünger um sich versammelt hat.

Eine zweite Gefahr, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments noch unmittelbarer bedroht, wurde in Straßburg ebenfalls augenfällig. Der chaotische Zustand unserer Welt am Ende des Jahrhunderts überfordert die verfügbare Zeit und Arbeitskraft der Parlamentsmitglieder. Ruanda, Ost-Timor, Sarajevo, nordamerikanische Ureinwohner, Algerien, Palästina ... schier unzählig sind die Fronten, an denen Gewalt und Unrecht die Stirn geboten werden muß. Allzuleicht könnte das Internationale Parlament der Schriftsteller versucht werden, sich die Rolle einer letzten moralischen Weltinstanz anzumaßen.

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