Mehrheit mit Taschenspielertricks

■ In der Slowakei droht heute das parlamentarische Chaos

Berlin/Bratislava (taz) – Als „Parlamentsputsch“ bezeichnet der slowakische Schriftsteller Martin M. Šimečka das, was sich im slowakischen Parlament heute abspielen könnte. Da es Vladimir Mečiar auch vier Wochen nach den Parlamentswahlen nicht gelungen sei, eine Regierung zu bilden, greife er nun zu Methoden, die sich am Rande der Verfassungsmäßigkeit bewegen. „Der Slowakei droht Chaos“, sagte Šimečka zur taz.

Mečiars Plan ist klar: Da bei der heutigen konstituierenden Sitzung keine neue Regierung gewählt werden wird, führt die bisherige Regierung unter Jozef Moravčik die Geschäfte weiter. Da Minister jedoch nicht gleichzeitig Parlamentsabgeordnete sein können, müßten deren Sitze von „Ersatzabgeordneten“ eingenommen werden. Genau diese insgesamt 15 Ersatzleute will Mečiar jedoch nicht anerkennen und versucht, dies mit Hilfe des Parlamentspräsidenten, der ebenfalls seiner Partei, der „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ (HZDS) angehört, durchzusetzen.

Mečiars Rechnung könnte aufgehen. Bisher hat das slowakische Parlament 150 Abgeordnete, seine HZDS verfügt mit dem bereits feststehenden Koalitionspartner, der Slowakischen Nationalpartei (SNS), aber nur über 70 Mandate. Werden die 15 Ersatzleute nicht anerkannt, verringert sich die Zahl aller Abgeordneten auf 135, Mečiar hätte eine Mehrheit und könnte noch bei der heutigen Sitzung alle wichtigen parlamentarischen Funktionen mit seinen Leuten besetzen.

Die Opposition aus Christdemokraten, Liberalen und Ex- Kommunisten kann ihn kaum hindern. Tatsächlich entscheidet laut Verfassung der Parlamentspräsident über die Zulassung der Ersatzkandidaten. Zwar zeigte sich der Vorsitzende der „Partei der demokratischen Linken“ (SDL), Peter Weiss, gegenüber der taz optimistisch, doch noch ein Einlenken der HZDS zu erreichen, den von der Opposition diskutierten Parlamentsboykott wollte aber auch er nicht ausschließen.

Das zu erwartende parlamentarische Chaos kann für Mečiar freilich nicht mehr als eine Zwischenlösung sein. Er hätte die Mehrheit im Parlament, wäre jedoch noch nicht Regierungschef. Allerdings wurde gestern bekannt, daß Mečiar dem linkspopulistischen Arbeiterbündnis (ZRS) den Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten zugesagt hat. Im Gegenzug wird die ZRS die Regierung unterstützen.

Ungewiß ist weiterhin, wie sich die SDL verhalten wird. Vor den Wahlen hatte ihr Vorsitzender Weiss ebenso wie der wirtschaftsliberale Flügel wiederholt eine Koalition mit Mečiar abgelehnt. Doch nach der verheerenden Wahlniederlage der SDL drängt sich der eher reformfeindliche Flügel in den Vordergrund. So bezeichnete Verteidigungsminister Pavol Kanis die Beteiligung der Linken an der liberalen Regierung Moravčik als „historischen Fehler“. In Bratislava wird spekuliert, daß fünf bis sechs der insgesamt 18 Abgeordneten der SDL bereit wären, eine HZDS-Regierung zu unterstützen — und Mečiar damit zu einer knappen Parlamentsmehrheit zu verhelfen. Sabine Herre