Ein schönes Spiel

■ betr.: „Erststimmen von PDS und Grünen machen Kohl erneut zum Kanzler“, taz vom 19.10.94

[...] 1. Hätten CDU und SPD, die beiden demokratischen Volksparteien, „die Eigenheiten des deutschen Wahlrechts“ geschickt ausgenutzt, wäre die PDS mit keinem einzigen Abgeordneten in den Deutschen Bundestag gekommen.

2. Wann wäre das der Fall gewesen? Die CDU hätte über ihren Schatten springen müssen und ihren Anhängern oder Wählern in Berlin und im Osten empfehlen müssen, die Erststimme dem SPD- Kandidaten zu geben, der gegen einen PDS-Kandidaten antrat. Vermutlich hätte die PDS nicht ein einziges „Direktmandat“ gewonnen, und die Opposition wäre um 30 Stimmen ärmer gewesen, das heißt den 329 Stimmen der Koalition ständen nur mehr 302 Stimmen der Opposition gegenüber!

3. „Die Eigenheiten des deutschen Wahlrechts“ sind nicht nur allein der CDU durch die für Herrn Marten so ärgerlichen „Überhangmandate“ zugute gekommen. Auch die SPD profitierte davon. Besonders aber kam die PDS in den Genuß dieser „Eigenheiten des deutschen Wahlrechts“, das beim Gewinn von nur drei Direktmandaten nicht bloß mit diesen drei gewählten Personen, sondern mit allen Damen und Herren, die durch Zweitstimmen gewählt worden waren, in den Bundestag einziehen. Nun, die PDS gewann bekanntlich vier Direktmandate.

Die „Eigenheiten des deutschen Wahlrechts“ bestehen halt für alle rechtlich anerkannten Parteien zu ihrem Wohle. Ob „Überhangmandate“ oder „Direktmandate“, die die Sitzzahl einer Partei beeinflussen, ist durch den Wahlmodus vorgegeben. Damit haben wir uns solange abzufinden, bis kluge Leute das Wahlrecht ändern. Aber bis dahin wird noch eine lange Zeit vergehen. Walter Thumser, Steffenberg

Ein schönes Spiel ist das ja schon, dieses Was-wäre-Wenn. Also, was wäre, wenn alle Grünen und PDSler der SPD die Erststimme gegeben hätten? Eine rot-grüne Reformbewegung bestimmt nicht. Denn: Eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS haben weder Grüne noch SPD gewollt. Um diese Situation zu umgehen, hätte die SPD also mehr als 30 (MdBs der PDS) Überhangmandate erringen müssen, damit überhaupt rechnerisch Rot- Grün (ohne PDS und FDP) möglich ist. Und diese 30 Überhangmandate hätten auch nicht ein paar Unistädte eingebracht.

Also: Was wäre wenn die bisherige Opposition eine knappe Mehrheit bekommen hätte? Eine Große Koalition zöge über das Land, mit einem Vizekanzler Schröder, dessen Reformpläne sich auf das Abwracken von Autos beschränken. Ob das besser wäre?

[...] Eine andere Funktion, als die SPD, in welcher Form auch immer, in die Regierung zu hiefen, haben die Erststimmen auch: Den örtlichen Kandidaten wird das Vertrauen durch sie ausgesprochen. Und die KandidatInnen der SPD sind nicht per se vertrauenswürdig. Auch in der SPD soll es noch DirektkandidatInnen geben, die sich nicht für Rot-Grün einsetzen, nicht für die derzeit einzige Reformregierung, die diesen Namen verdient.

Es gibt beim Wählen nicht nur taktische Überlegungen, die auf dem dünnen Fundament ominöser Wahlumfragen aufbauen, sondern auch noch inhaltliche und personelle Fragen, die die Wahlentscheidung beeinflussen sollten. Den WählerInnen vorzuhalten, sie hätten ihre Erststimmen verschenkt und mit ihnen Kohl an die Macht gelassen, ist dumm. Die oben genannten Alternativen sind keinen Deut besser für die so nötigen Reformen in diesem Land. Ilja Clemens Hendel, Freiburg