Demokratie im Nebel

Die deutsche Frauenbewegung ringt um Erkenntnis. Sie will die Neuordnung der Gesellschaft mitgestalten, weiß aber noch nicht so recht wie.  ■ Von Mechtild Jansen

Der Berliner Kongreß „Demokratie und Differenz“ sollte sich, so die Veranstalterinnen, mit den gesellschaftlichen Umbrüchen auseinandersetzen, feministische Politik reflektieren und wo notwendig revidieren. Die Vorstellung US- amerikanischer Diskussionsansätze sollte die hiesige Debatte beflügeln.

Grün-alternative Frauen, Autonome, Lesben, Immigrantinnen, Frauenforscherinnen und Studentinnen debattierten nahe an den Problemen, mit denen sich die Frauenbewegung heute konfrontiert sieht. Die theoretisch-politische Diskussion richtete sich auf die Situation der Frauen, ihre Unterschiede untereinander und im Verhältnis zu Männern, soziale Ungerechtigkeiten wurden als Problem neu wahrgenommen, es wurde nach den Strukturen und Mechanismen von verschiedenen Unterdrückungsverhältnissen unter veränderten Prämissen gefragt. Multiple Identitäten, Bündnisse, radikale Demokratie und Zivilgesellschaft wurden so erstmalig in einer frauenpolitischen Öffentlichkeit als gesellschaftspolitische Vorstellungen debattiert. Auffällig nur: Über den Ost-West-Konflikt wurde nicht gesprochen.

Denkanstöße kamen erst einmal aus dem Ausland. So schlugen Nancy Fraser (USA) und Chantal Mouffe (Paris/London) eine produktive Verarbeitung der Debatten um Gleichheit und Differenz vor. „Was ist der Unterschied, der einen Unterschied macht für die Demokratie“, fragte Fraser. Erst relationale Identitäten, pluralistische Multikultur und soziale Gerechtigkeit zusammengenommen markierten ihrer Meinung nach den Weg zu Freiheit und Gleichheit für alle. Differenzen seien nicht per se schlecht oder gut, sondern müßten politisch beurteilt werden.

Mouffe hob die ständige Veränderung und Konstitution der Subjekte, die Dialektik von festgelegt und offen hervor. Es sei zu zeigen, wie „Frau“ in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konstruiert werde, mit dem Hinweis auf sexuelle Differenz aber immer soziale Unterordnung geschaffen werde. Gleiches gelte für andere Unterdrückungsverhältnisse. Ein gemeinsames „Wir“ stifte sich über die Gegnerschaft gegen Herrschaft.

Beate Rössler (Universität Bremen) stellte die Differenz zwischen Frauen und Männern und den Begriff Gleichheit in den Vordergrund. Die Anerkennung individueller Differenz sei der liberalen Demokratie eigen, wie der proklamierte Schutz der privaten und öffentlichen Freiheit zeige. Feministische Politik habe die privaten Rechte und die politische Partizipation in gleicher Weise zu rekonstruieren und einzufordern. Dazu müsse die Trennung des Öffentlichen vom Privaten und die Zuordnung der Frauen zu letzterem überwunden werden. Erst wenn die Gleichstellung mit den Männern erreicht sei, solle die Differenz zwischen Frauen ausgetragen werden.

Eine Position, der Dagmar Schultz (Berlin) wohl kaum zustimmen würde. Sie kritisierte das Desinteresse westdeutscher Frauen am Los ausländischer Frauen und am ostdeutschen unabhängigen Frauenverband. Erst die schwarzen Frauen böten mit ihrem Blick auf die mehrfachen Identifikationen ein ganzheitliches Konzept von Befreiung. Ob diese Art von Idealisierung hilfreich ist oder die zu Recht beanstandeten Machtunterschiede eher verstellt denn bloßlegt, bleibt zu hinterfragen.

Sedef Gümen (Osnabrück) wies auf eine ganz konkrete Diskriminierungspraxis in Deutschland hin. Die Debatten um politische Teilhabe und Gleichwertigkeit hätten in den USA einen anderen Bezugspunkt als hierzulande. Während dort staatsbürgerliche Identität über die weltbürgerlichen Prinzipien und Rechte gestiftet werde, beziehe sie sich hierzulande immer noch auf das völkische Prinzip. Multikulturalismus verkomme dadurch zu einem bloßen und zudem statischen Kulturmodell ethnischer Differenz. Eine Differenzdebatte ohne Beharren auf einem neuen Staatsbürgerrecht und einem Antidiskriminierungsgesetz perpetuiere also Herrschaft.

Rose Brewer und Lisa Albrecht (USA) beschäftigten sich mit dem Problem der Bündnisse. Die Individuen hätten nicht eine, sondern verschiedene Identitäten. Die Vernetzung verschiedener Kämpfe und der Kampf gegen die Spaltungen seien notwendig. Wie das gelingen soll, blieb offen. Während der Kongreß allem Kommunitarismus tief skeptisch begegnete, freundete er sich mit der Idee der Zivilgesellschaft vorsichtig an. Barbara Holland-Cunz (Berlin) stellte den Diskussionsstand vor. Zivilgesellschaft wird mit „Demokratisierung“, Partizipation, Öffentlichkeit, Selbstkonstituierung und -mobilisierung freier Individuen und gesellschaftlicher Zusammenschlüsse assoziiert. Mit ihrem Wachsen können kommunikative Strukturen, Rechte und Institutionen öffentlicher Willensbildung entstehen. Die Zivilgesellschaft sei „feministisch anschlußfähig“. Form- und Strukturlosigkeit könne jedoch auch undemokratische Praktiken produzieren. Die Idee der Zivilgesellschaft sei deshalb zu konkretisieren.

Die Diskussion zeigte, daß von einem Konzept noch nicht die Rede sein kann, sich der Begriff aber zur Projektion von Wünschen und Befürchtungen eignet. Verbirgt er die Wende zur Realpolitik der Frauenbewegung, zu bloßem Lobbyismus? Ist er in der Lage, einen Weg zum Umgang mit Antagonismen und Dominanzverhältnissen zu zeigen, die sich nicht freiwillig kommunikativ überwinden lassen? Gibt es überhaupt einen garantierten Raum für Zivilgesellschaft, und wie verhält er sich zu Staat und Ökonomie, bedienen sich letztere nur an ihm? Ohne die Existenz universaler Rechte und sozialökonomischer Gleichheit jedenfalls kann Zivilgesellschaft als solche wenig emanzipatorische Gestaltungskraft entfalten.

An Problemen und Kontroversen gab der Kongreß manches zu denken. Wenn die antiinstitutionelle, separat orientierte autonome Frauenbewegung nach dem Verlust des einheitlichen kulturell gedachten „Wir“ nun die wieder kulturell gedachten Differenzen unter Frauen entdeckt, so verlagert sich die Debatte nicht nur, sondern es besteht auch die Gefahr, daß jeder politische Widerstand sich im Nichts verliert. Wer Unterschiede als legitim betrachtet, muß sehr genau sagen, welche insbesondere auch sozialen Unterschiede warum erlaubt sind, welche politisch, welche privat sind. Eine enstprechende „Liste“, wie gefordert, hilft kaum, da sie starr und schematisch wäre und die Multiplizität und Verschränktheit unterschiedlicher Unterdrückung gerade ignorierte.

Es wäre jeweils neu auf den Begriff zu bringen, worin Herrschaft besteht und wie sie sich im Zusammenhang theoretisch und praktisch darstellt, um wirksame alternative Konzepte entwickeln zu können. Auch wäre das Interesse der Individuen an der Gesellschaft und an kollektiven Zusammenhängen und umgekehrt genauer zu klären, damit nicht Herrschaft nur reproduziert wird und demokratische Prozesse und Strukturen im einzelnen bestimmt werden können. Auf dieser Basis wären konkrete politische Projekte zu formulieren und neu zu bestimmen, mit welcher Art politischer Organisation welche Rechte durchgesetzt oder welche Probleme gelöst werden können.

Frau hat sich den Brennpunkten zugewandt, zur Auseinandersetzung zurückgemeldet und sich den gesamtgesellschaftlichen Eingriff vorgenommen. Das ist eine Wende. Ob und in welche Richtung das zum politischen Handeln animiert, wird sich zeigen.