■ Letzte Worte vor dem großen Urnengang
: Dann wählt mal schön

Schluß. Aus. Ende. Einmal werden wir noch wach, dann haben wir die Qual. Zwischen „Helmutti, der Rache des Feminismus am Spätpatriarchat“ (Matthias Beltz), und der deutschen Ausgabe von Al Bundy, jener Mischung aus Schupo und Schuhvertreter, der den Deutschen statt des Ellbogens der Zweidrittelgesellschaft den Schuhlöffel der sozialen Gerechtigkeit, die „ausgestreckte Hand“ der sozialdemokratischen Kleinfamilie bieten will. Doch wer möchte die ergreifen?

„1994 war ein Jahr ohne Entscheidung. Hinter uns liegt ein Sommer, vor uns ein Winter, das ist alles“, resümiert der Kabarettist Matthias Beltz am Vorabend der Wahl auf dem „Reichspolterabend“ und trifft mit dieser meteorologisch inspirierten Metapher den Zeitgeist an der verwundbarsten Stelle – an seiner Leerstelle.

Denn der zurückliegende Bundestagswahlkampf war nicht nur der „fairste“ seit 1949, wie der Kölner Parteienklüngelexperte Erwin K. Scheuch auf der Horst-Eberhard-Richter-Skala gemessen haben will, sondern auch der ausgewogenste, undramatischste und langweiligste. Selbst die roten Socken baumeln inzwischen wieder recht friedlich an der ideologischen Wäscheleine.

Nicht Politikverdrossenheit heißt das Syndrom, sondern Melancholie im Wechseljahr, eine emotionale Sprunghemmung, die gleichzeitig nur darauf wartet, von einer Alternative überzeugt zu werden. Aber wenn der korrekt geschnittene Westerwälder Graubart Scharping in aller Öffentlichkeit wieder und wieder seine Rechenkünste beim Kindergeld, der Staffelung von Ausbildungsbeihilfen und dem Ehegattensplitting vorführt, kommen nicht nur dem Lateiner aus der gymnasialen Oberstufe böse Erinnerungen an herausragende Irrtümer der europäischen Geschichte, etwa an den römischen Kaiser Caligula, der ein Pferd zum Minister ernannte.

Doch welcher Römer hätte eine Ziege zum Kanzlerkandidaten gemacht und das Ganze dann noch zu einer kleinen Herde namens „Troika“ aufgeplustert?

So problematisch historische Parallelen sind: Ratlosigkeit und Verwirrung sind unübersehbar, sie reichen bis ins Privatleben, der Riß geht quer durch Familien, Wohngemeinschaften und Single-Appartements. Altgediente Linke geben trotzig kund, wegen „Europa“ Helmut Kohl wählen zu wollen, andere haben vor, „aus Protest“ gegen alles und jedes, ehedem: „das System“, Gysis PDS die Stimme zu geben. Ganz Verwegene erinnern sich ihrer Herkunft aus einer radikalen Minderheitenposition und optieren augenzwinkernd für die FDP. Besserverdienende sind sie allemal.

Zu Zeiten, für die der alte Begriff von der „neuen Unübersichtlichkeit“ schon zum puren Euphemismus geworden ist, steigt der Bedarf an Orientierung und Sinngebung, marktwirtschaftlich gesprochen: die Nachfrage eines überzeugenden politischen Angebots, das zugleich die Komplexität der Probleme thematisiert. Hier hat das Wahlkampfjahr 1994 einen eklatanten Mangel im Supermarktregal offenbart.

Keiner Partei oder Parteienkonstellation ist es gelungen, den in Deutschland links wie rechts konsensfähig gewordenen realpolitischen Pragmatismus strategisch „aufzuladen“, mit diskussionsfähigen Optionen, Prinzipien, Konzepten zu verknüpfen. Gerade, weil es dabei nicht mehr um „Visionen“ und „Utopien“ seligen Angedenkens geht, scheint es so schwer zu sein, Vernunft mit politischer Leidenschaft, Probleme mit Perspektiven zu verbinden.

Vielleicht dämmert ja morgen abend im Angesicht der flirrenden Hochrechnungen manch einem, daß er sich selbst wieder mal daran beteiligen könnte, das Angebotsniveau zu erhöhen. Denn eines ist sicher: Nach dem Winter kommt der nächste Frühling. Reinhard Mohr

Publizist in Frankfurt/Main