König Otto in Athen

Die Bewohner der griechischen Hauptstadt pflegen in ihrer Jitonia trotz Smog, Armut und Touristenrummel ein überschaubares, fast dörfliches Leben. Ein Wittelsbacher König hat die Stadt mit geprägt  ■ Von Uwe Wandrey

Palió Iraklion, ein nördlicher Vorort von Athen. Gepflegte Obst- und Blumengärten, niedrige Häuser, Einkaufsgassen. Die Schneise einer abschüssigen Straße öffnet den Blick auf das steinerne Meer dort unten im Kessel. Die Akropolis kratzt an der Glocke aus Morgendunst und Abgasen.

Auf dem Friedhof, in der Nähe der dörflichen Platia mit den knorrigen, geduckten Pinien die Namen Bittlinger, Kegelmeier, Feller. Und noch häufiger: Müller und Wagner. Es sind die Namen der Nachkommen ausgemusterter bayerischer Soldaten, die sich hier vor fast 160 Jahren als Bauern und Handwerker niederließen. Sie kamen mit dem Wittelsbacher König Otto, der 1832, nach jahrhundertelanger Türkenherrschaft, das neue Griechenland aufbauen sollte. Der Bayer bescherte den Griechen zwar das Bier – es wurde hier in Iraklion gebraut –, ebenso die Kartoffeln, auch die Rettung der Altertümer spricht für ihn. Doch das heutige Chaos dort unten haben er und seine Regenten ebenfalls auf der Rechnung.

Vom 19. Jahrhundert bis in das sieben Kilometer entfernte Stadtzentrum der Gegenwart ist es eine halbe Autostunde. Die dörfliche Vorstadtlandschaft weicht zwei- und drei-, dann sechsstöckigen Flachdachhäusern, die Luft wird stickig. Reklametafeln auf den Häuserblocks verdecken den Himmel. Zeit, sich einen Parkplatz zu suchen.

Wie eine fette, autofressende Spinne sitzt der Platz der Eintracht, der Omónia, im Netz der Straßen von Athen. Alle Wege führen bedeutungsvoll hierher, doch außer schlechter, heißer Luft erwartet den Touristen nicht viel.

Ursache für das Vakuum waren leere königlich-bayerische Taschen. An dieser Stelle sollte eigentlich Ottos Schloß stehen, sein schwärmerischer Blick sollte sich durch zwei prächtige Boulevards hinauf zur Akropolis und auf das antike Stadion richten – schließlich war man der Sohn des großen Kunstkönigs Ludwig. Dann war es aber unten, am heutigen Sindagmaplatz billiger. Außerdem wollte man Athen klein und eng wie eine antike Gartenstadt gestalten; auch dieser Plan scheiterte am lieben Geld. Die Straßen allerdings wurden schon entsprechend gebaut.

Unter den nüchternen Fronten der Geschäftshäuser und Hotels, die den Platz umgeben, ducken sich einige heruntergekommene Hotels. Hier und dort, etwas planlos, ein paar neu implantierte Palmen und restaurierte Brunnen. Sie erinnern an die Zeit vor hundert Jahren, da der Platz der Einheit ein viel besuchter Vergnügungspark war. Auch das schöne alte Cafe „Bretania“ und die berühmte „Bakákos“-Apotheke zählen zu den Lichtpunkten des Platzes. Wegen des Metroausbaus ist der Blick auf das Innere des Platzes zur Zeit versperrt. Das Skelett eines riesigen Baukrans überspannt den Bereich. Man darf gespannt sein, wann an seinem Haken die Bretterwände entschweben und was der Platz dann zu bieten hat.

Am besten läßt man sich von der Menge treiben, die sich zwischen Fahrbahn und Schaufensterfronten die Athinas-Straße am Spalier von Verkaufsständen entlangschiebt. Socken oder Turnschuhe gefällig? Ein T-Shirt oder lieber ein Musikfeuerzeug?

Dann plötzlich schon wieder ein langer Bauzaun. Hier am Kotzia- Platz soll eine Tiefgarage entstehen. Ich luge durch einen Bretterschlitz: eine tiefe Grube in der graugelben Erde. Keine Bagger, keine Planierraupe, keine Betonarbeiter. Doch an den Rändern sind weiße Sonnensegel aufgespannt, unter ihnen ein paar Gestalten, die mit Schabern und Handbesen am Werk sind. Neben ihnen zerbrochene Steinplatten, Körbe mit kleineren Bruchstücken.

Unter dem Pflaster liegt hier zwar nicht der Strand, aber ein antiker Friedhof. Der private Bauherr des Autobunkers wird sich noch Jahre gedulden müssen. Archäologen haben in Griechenland fast immer Vorfahrt und auch schon so manchem Auftraggeber einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Dann zieht mich der Strom in die Markthalle. Im Zwielicht aus Balustradenfenstern und Neonröhren: frisch Geschlachtetes und jüngst Gefischtes. Zersägtes, Geplättetes, Vereistes, Zerhacktes, Durchgedrehtes und in Öl Gelegtes. Wohlgeordnet, sauber, aber von einer Nacktheit, die empfindlichen Zeitgenossen den Magen umstülpt, bieten sich mir Hirne, Hoden, Därme an. Aus leeren Augenhöhlen glotzen Schädel, die gestern noch auf Schafen, Schweinen, Rindern saßen. Hühnerkrallen sind in Reih und Glied angetreten und umsäumen eine Landschaft aus Leber- und Nierenhügeln.

Die neoklassizistisch klaren, erhabenen Bögen, die Pfeiler und Säulenreihen der Markthalle scheinen mit dem profanen Treiben darunter nichts zu tun zu haben. Seit 1879 sorgen hier die Händler dafür, daß die eßlustigen Athener satt werden. Bei aller Liebe zum täglichen Salat, zu Trauben, Feigen, Oliven, Pistazien und Kichererbsen – eine Mahlzeit, die weder Fisch noch Fleisch enthält, ist einfach keine. Im schmuddeligen Restaurant inmitten der Hallen kann sich der vom Rundgang Erschöpfte an typischen griechischen Gerichten stärken. Warum nicht an Koukourétzi, dem Pfannencocktail aus frisch gerupften Innereien. Dazu ein Tsatsiki, danach am besten einen doppelten Ouzo.

Der Duft frisch gerösteten Kaffees lockt mich in die Straße des Sophokles, eher eine Gasse, die ich mit einem Fuß auf dem schmalen Gehweg, mit dem anderen auf dem Asphalt hinunterhumple. Gegenüber der Börse ein winziger Laden, der sich auf Eisenfedern aller Art, daneben einer, der sich auf Kettensägen spezialisiert hat. Vor einem Stück Brachland schon wieder ein Bretterzaun. Überall Steine, Glas, Holz, Metall. Dann streckt mir plötzlich eine alte Frau frische Margariten entgegen, und vom Zaun greift eine Palme mit ihren fleischig grünen Wedeln nach mir.

Jetzt steckt meine Nase in dem Laden mit den rotierenden Rosten und vor den Fülltrichtern: Brazil, Java, Costa Rica – schade, daß ich meinen Campingkocher nicht dabei habe.

Kaum meine ich, mal wieder die Nase voll zu haben von dem nervenschleifenden, atemverschlagenden Verkehr der großen Straßen, verliere ich mich plötzlich in einer dieser schmalen Gassen, stehe vor einem uralten Café, trete ein, schaue mich um und denke: Hm – so habe ich mir Athen eigentlich immer vorgestellt. Die alten Männer mit ihrem Mokka und dem Glas Wasser auf den kleinen Tischen, der Wirt ist eingenickt, gleich schneit das Mädchen von Piräus herein.

Als die junge Melina zum ersten Mal über die Leinwand strich, wohnten in ganz Athen gut eine Million Menschen. Heute leben hier mehr als vier Millionen, fast die Hälfte aller Nationalgriechen. Jährlich kommen 150.000 Einwohner hinzu. Da ist kaum noch ein Durchkommen. Die Metro wird zwar gerade ausgebaut, bislang aber hat sie gerade eine Linie. Der restliche Verkehrsstrom mit anderthalb Millionen Privatautos rollt über die Straßen. Sie dürfen daher seit Jahren nur an jedem zweiten Tag in die Innenstadt – wegen des nefos, der „Wolke“, gemeint ist der Smog. Und der kommt im Sommer häufig genug. Dann dürfen keine privaten Fahrzeuge mehr verkehren. Fabriken werden abgeschaltet. Nächste Stufe: nur noch jedes zweite Taxi darf fahren. Dann füllen sich die Krankenhäuser.

Wer ein schwaches Herz hat, bleibt am besten gleich zu Haus. Wenn er denn eine Bleibe hat: „N'aste kala, n'aste kala!“ – ich bitte euch, seid so gut! Ein Krüppel in der Evangelistrias will eine schäbige Armbanduhr verkaufen. Ihm schlägt keine Stunde, doch es knurrt ihm der Magen.

Athen ist arm, fast jeder zweite lebt unterhalb des Existenzminimums. Doch nur wenige erbetteln sich ihr Brot. Wer nichts hat, sich keinen Karren und keinen Stellplatz leisten kann, der setzt sich auf das Trottoir und verkauft irgendetwas aus der Rocktasche oder der Plastiktüte. Schnürsenkel, Kugelschreiber, Taschenlämpchen.

Am Vormittag wird die Innenstadt zu einem Basar fliegender Händler. Jeder freie Quadratmeter ist mit Verkaufsgestellen, Handkarren, Kisten und Kartons verstellt. Doch man verkauft nicht nur, immer ist auch Zeit für Klatsch oder für einen Meinungsaustausch. Manchmal scheint es, als hätte der Händler seinen Marktplatz nur reserviert, um im Gespräch zu bleiben. Und in guter Gesellschaft. Gruppierten sich nicht auch im antiken Athen rund um den Tempelbezirk die Scharen der Händler, wurde nicht auch damals die Politik auf der Straße erledigt, gingen nicht auch Platon und die Stoiker in den Säulengängen der Markthallen mit ihren Philosophien hausieren? Mit Sicherheit war auch die hehre Akropolis von recht weltlichem Treiben umgeben.

Unbeirrt von der stechenden Sonne zieht der Strom der Touristen an Kitsch und Kunst der Adrianou-Straße vorbei durch die Plaka. Was kaufen? So einen peloponnesischen Schafswollpullover oder doch besser ein Tavli-Spiel? Trotz Touris, Talmi und Tamtam – das Gassenlabyrinth der Plaka ist einen Bummel wert.

Hoch zu dem kleinen weißen Kykladendorf Anafiotika, dessen Häuser vor mehr als hundert Jahren über Nacht hochgezogen wurden. Zur ersten kleinen Uni von Athen direkt am Akropolis-Felsen. Oder unten auf der Adriani entlang durch die Tiefen der Antike tippeln: Der Tempel des Hephaistos, der Turm der Winde, die Reste der Hadriansbibliothek, die römische Agora. Das alte Athen liegt zwei, drei Meter, begraben vom Staub der Jahrtausende, unter Bauschutt, Humus und Wurzelwerk.

Auch am Sindagma-Platz Bretterverhaue und Straßenabsperrungen. Hier wird der Bahnhof für die neue U-Bahnlinie gebaut. Die „Metro-Maus“, das Tunnelbohrgerät, darf aber zur Zeit nicht weiterfressen. Grund: Ta Archea, also mal wieder irgendein alter Friedhof im Weg. Die Athener haben von ihrer Antike langsam die Nase voll. Ihr Oberkonservator ebenfalls: Wenn es nach ihm ginge, würde er keine neuen Ausgrabungen mehr erlauben. Erstens gebe es an den bisherigen großen Fundstellen noch viel zu tun, zweitens keinen besseren Schutz als dicke Erdschichten, und drittens zerstöre jedes Ausgrabungsprojekt den Frieden der Anwohner.

Der Nationalgarten neben dem Syndagmagebäude, den seinerzeit Ottos Gemahlin Amalie aus Oldenburg anlegte, ist eine grüne Oase in der grauen Steinwüste Athen. Zwischen umgestürzten römischen Säulen, an Mosaikfußböden und Mauerresten kann man auf Bänken oder auf kleinen Grasflächen die Seele baumeln lassen. Über einem das Laubdach heimischer und exotischer Bäume. Man könnte ein wenig durchatmen. Könnte – aber kaum ein Athener nutzt die Gelegenheit. Was soll man allein auf grüner Flur? Die meisten Griechen fühlen sich auf der kleinen Straße, auf der Platia und in der Menge besser aufgehoben: Oli masi, alle miteinander. Hinein in die Enge.

Ob die Straßen, Atemluft, Leitungswasser, Finanzen oder Politik: Engpässe, wohin man blickt. Wenn nicht gerade die Busfahrer oder die Müllfahrer streiken, dann eben die Postler, die Taxichauffeure oder die Kapitäne. Wie kommt es, daß in diesem Chaos das Leben fast normal weitergeht und das gar nicht so schlecht? Die Griechen mißtrauen schon seit Türken Gedenken dem Staat und verlassen sich nicht auf öffentliche Einrichtungen. Also hilft man sich selber, man improvisiert. Man redet, man fetzt sich, man schäumt über, tanzt, wer weiß, was morgen ist.

Das alles passiert in der Nachbarschaft, der jitonia. Sie ist der Ort, in dem sich das Alltagsleben abspielt. Manchmal reicht sie nur bis zur nächsten Straßenecke. Die Welt ist überschaubar wie das Dorf, aus dem man kommt. Hier geht man nicht verloren. (Darum gibt es in Athen trotz Armut kaum Slums.) Zu der jitonia gehört das Kafenion (Café), die Taverne, der Kiosk, der kleine Krauter, der Eisenkrämer und eine kleine Autowerkstatt. Was braucht man schon mehr. Athen – das ist ein Flickenteppich aus unzähligen Dörfern.

Der Stadtteil Pankrati hinter dem antiken Olympiastadion hat viele solcher jitonias. Immer mehr Künstler und Intellektuelle, denen das stille Kolonaki zu teuer oder zu fein ist, zieht es hierher: steil abschießende und wieder aufsteigende schmale Straßen, Platanenreihen, Häuser mit höchstens drei Stockwerken. Das Geplauder der Gartenlokale liegt sommerabends wie tuschelndes Laub zwischen den Hauswänden. Gedämpfte Musik aus dem Bouzouki-Lokal am Straßeneck. In der Ouzeria an der Platia Varnavas sitzt man bis spät in die Nacht hinein. Man klagt, deklamiert, beschwört. Panajio mou! Jungfrau Maria!

Vielleicht sind es gerade die Strapazen, die Pannen, die geologischen und die politischen Erdbeben, die das sonst so monotone Leben ein wenig aufregender gestalten, dem Pathos neue Nahrung geben. Tränen reinigen die Seele. Alles fließt.