Kultur nach Mitternacht

Madrid im Sommer ist unerträglich und faszinierend zugleich. Konzerte, Kino und Feste beginnen oft spät abends. „Genießen, was sich bietet - morgen kann alles zuende sein“, sagen sich die Bewohner und leben nachts auf  ■ Von Annette Krauß

Von Madrid in den Himmel – „de Madrid al cielo“ – heißt ein altes Sprichwort, das an die Tage erinnert, als die Stadt noch ein Dorf mit Residenz des Königs war. Heute ist Madrid keine Zwischenstation zum Himmel mehr, und das Blau, unter dem Velázquez wandelte und das er in seinen Bildern festhielt, ist heute meist grau vom Smog der Großstadt.

Wer am frühen Morgen auf einer Dachterrasse steht und über das Häusermeer blickt, der kann mit etwas Glück noch die ferne Sierra sehen, den Gebirgszug des Guadarrama, wo die Reicheren die bessere Luft genießen, darüber aber gleißen schon die Sonnenstrahlen und wächst der graue Smog wie ein Ring um die Stadt, die im Ansturm der Autokolonnen erstickt. Während es in den nahen Innenhöfen noch still und schattig ist und die Señoras vor zehn Uhr nicht gestört werden wollen, rollen die Arbeiter und Angestellten aus den neuen Trabantenstädten vierrädrig in die Stadt, quellen aus den Bussen die Menschentrauben und versickern in den Metroschächten. Ein Dröhnen und Rauschen umtost das Hochhaus, dessen kahles Flachdach im Verlauf der Morgenstunden immer heißer wird, weil sich der bröckelnde Beton und Zement, kaum abgekühlt in der Nacht, wieder auflädt mit Sonnenenergie, die jeder in den Sommermonaten verflucht.

Drunten in den Läden des Stadtviertels riecht es schon nach frisch gebackenen Croissants und nach chlorreichen Putzmitteln. Die Botenjungen schieben ihre Einkaufswägen über die Straße und läuten bei den Hausfrauen, die telefonisch für heute bestellt haben: hundert Gramm Serrano-Schinken, ein halber Manchego-Käse, ein Glas schwarze Oliven, ein Pfund Tomaten, Knoblauch, Waschpulver und ein Karton Mineralwasser. Drinnen in der Altstadt, fern von den Autobahnringen und Einfallsschneisen der alltäglichen Blechlawine, beginnt langsam die Geschäftigkeit des Morgens. In der kleinen Bar werden die Zahnstocher, Servietten und Abfälle zusammengekehrt, die in der Nacht die Gäste an der Theke haben fallenlassen. In das Kratzen und Scharren des Besens mischt sich das metallene Geräusch der Bierfässer, die über das Pflaster gerollt werden und in den ersten Sonnenstrahlen silbrig aufblitzen, bevor sie im noch kühlen Schatten der Häuser verschwinden. Schon wandert der schräge Streifen Sonne von den obersten Stockwerken tiefer, entlang den roten Geranien, die auf den Fensterbänken stehen und tropfen, weil jetzt, am Morgen, alles noch einmal auftankt vor der großen Hitze.

Die Señoras rollen ihre Einkaufstaschen auf Rädern in die Markthalle und versuchen den Verkäufern die beste Ware abzuluchsen. „Zwei Kilo von diesen Äpfeln, aber große und rote.“ – „Sehr schön, Señora, zwei Kilo Äpfel“, sagt der Händler und beginnt mit dem Abwiegen. „Ich wollte aber große“, protestiert die Señora, „und rot sollen sie auch sein!“ – „Ja was denn, sind die etwa blau, die ich eingefüllt habe?“ fragt der Mann genervt zurück und wirft den letzten Apfel mit Schwung auf die Waage, so daß er morgen schon eine braune Stelle haben wird. Jetzt sind beide beleidigt. Während der Verkäufer sich mit neuer Freundlichkeit an die nächste Kundin wendet, hat die Señora nun ein Thema, wenn sie gleich ihre Nachbarin trifft, beide mitten im Weg ihre riesigen Einkaufswägen abstellen und mit lebhaften Gesten und Mienen ihren Alltag und alle seine Höhen und Tiefen durchhecheln – nicht ohne sich gleichzeitig schon einmal einen Platz in der Schlange beim Eierverkäufer und bei der Olivenhändlerin gegenüber zu sichern. Die alte Regel, stets zu fragen, wer die letzte ist, hat den Vorteil, daß man sich per mündlichem Vertrag einen Warteplatz sichert, ohne daß man direkt körperlich anwesend ist – man muß nur alles im Blick behalten und rechtzeitig zur Stelle sein, aber die Augen sind sowieso immer überall.

Für den Neuankömmling ist es befremdend, wie scharf diese Augen mustern, vom Kopf bis zu den Zehen und wieder zurück wandert der Blick, und es gibt keine Regel von fünf oder gar drei Sekunden, wie lange man einen Fremden ansehen darf, hier wird geschaut, so lange man will, ungeniert und neugierig. Ungeputzte Schuhe sind eine fast undenkbare Vernachlässigung und könnten Zeichen einer Ehekrise sein, der fehlende Gürtel und die herabhängende Bluse könnten Hinweis auf eine Schwangerschaft sein, denn die Frau hat mit ihrer Kleidung zu zeigen, was sie hat an Busen, Taille, Hintern und Beinen, und auch die Rentnerinnen begrüßen sich noch überschwenglich mit „Hallo, Hübsche“.

Der abgewetzte alte Morgenrock gehört zu den Balkonen Madrids, jenen Außenräumen, die noch zur Wohnung zählen, und bis in den späten Vormittag sieht man die Frauen beim Blumengießen, Aufräumen und Putzen im Hausmantel. Erst der Schritt aus der Haustür zwingt zu eleganter Kleidung, ordentlicher Frisur und Lippenstift.

Im Sommer lebt man viele Stunden am Tag unsichtbar hinter den Mauern der Häuser, verschanzt sich hinter den geschlossenen Fensterläden und wartet im Dämmerlicht auf das Ende des Tages. Es ist ein Gefängnis aus flimmernder Luft, in dem man festsitzt, aus dem es keine Flucht gibt. Jede Bewegung ist zuviel, schon das Aufstehen macht Mühe, man ist zerschlagen, bevor der Tag beginnt. Das Essen läßt sich vernachlässigen, aber die Gedanken, die abhanden kommen, sucht man vergeblich, diese wache Leere ist schwer zu ertragen.

Die Lähmung von Körper und Geist ist unangenehm, zumal die Phantasie Kapriolen schlägt, den Verstand austrickst und in den Zeiten der größten Hitze narrt. Dann sitzt man am Tisch, durch die Jalousien dringt weißes Licht, der Himmel sieht aus wie auf Millimeterpapier gezeichnet, und die eigene Hand wiegt zentnerschwer. Kein noch so fesselndes Buch hält fest, keine Pflicht vermag zu rufen – nur die Träume zwischen Wachen und Schlafen führen in rasantem Tempo mit sich fort. Nirgendwo findet man Halt, wie bei einer Karussellfahrt trägt der Spuk davon und entführt in die Alpträume der Seele.

Goya muß diese Geister gekannt haben, er hat sie festgehalten in seinen düsteren Bildern von Hexen, Teufeln und Ungeheuern, die im Keller des Prado-Museums an den Wänden hängen. Die Schrecken des Körpers und der Seele hat er mit dem Pinsel zu bannen gesucht, und auch Breughels Darstellung der sieben Todsünden ist im Prado ausgestellt. Die Touristen drängen sich lieber im wirkungsvoll inszenierten Velázquez- Saal mit den meninas, den Hoffräulein, jener modernen Darstellung des Königshofes aus dem 17. Jahrhundert, oder vor dem einfallslosen, aber impressionistisch- flimmernden Bild des Hofstaates von 1800 aus Goyas Hand am Ende der Hauptgalerie des Museums.

Während die Besucher aus aller Welt dann in den Mittagsstunden auf den Trampfelpfaden durch die Stadt von Museum zu Museum ziehen und meist nach wenigen Tagen in der Hauptstadt weiterfahren zum eigentlichen Ferienziel am Meer, leben die Einheimischen entweder vergraben in ihren Häusern, oder wer das Geld für Ferien hat, fährt mit Kind und Kegel in die Betonburgen an der Südküste oder auf die riesigen Campingplätze. Nur die bessere Gesellschaft alter Schule sucht nicht die südliche Sonne, sondern den nördlichen Regen und genießt an der Atlantikküste die Exotik von grauem Himmel und Lesetagen in der verglasten Veranda.

Wohin auch immer die Reise geht, die Urlauberwelle hat für die Daheimgebliebenen mancherlei Vorteile. Zum einen stürzt man sich nicht in die lebensgefährlichen Autoschlangen, deren Statistik von Toten und Verletzten zu den makabren Höhepunkten des Jahres zählt. Zum anderen wird die Stadt etwas leerer und ruhiger, der Verkehr auf den großen Straßen nimmt erträgliche Ausmaße an, und wenn auch einige Restaurants und Bars geschlossen sind, so sind doch immer noch genügend vorhanden.

Die meisten Firmen machen bei gleicher Lohnfortzahlung um drei Uhr nachmittags Feierabend. Und auch die Ladenzeiten werden verkürzt, von zwei bis sechs Uhr ist Mittagspause, bevor noch einmal für zwei Stunden geöffnet wird, weil bei der größten Hitze niemand auf die Straße gehen will, und wer es unbedingt muß, der schleicht sich unter der senkrecht stehenden Sonne den schmalen Häuserschatten entlang. Das ganze Leben verlagert sich in die Nacht, und wenn sowieso erst um zehn Uhr abends gegessen wird, dann kann der Stadtbummel in die Kneipen, zum Konzert oder ins Kino auch erst gegen Mitternacht beginnen.

Auf der Dachterrasse flammen mit dem Abendrot die ersten Leuchtreklamen auf, die Hochhäuser erstrahlen im Neonlicht, ein japanischer Elektrokonzern läßt seine kunstvollen Reklamebilder aufblinken und wieder verlöschen. Es ist Zeit für ein erstes Bier oder den traditionellen Vermouth vom Faß, und wenn die Bar eine Klimaanlage hat und gute Tapas, kleine Imbißstückchen, reicht, kann es auch noch ein zweites Glas werden. Das Salz der Oliven und die scharfe, mit Paprika gewürzte Chorizo-Wurst tun dem Körper genauso gut wie die gekühlte Luft, bevor man mit einem Schritt aus der Tür wieder auf der aufgeheizten Straße steht, auf der abends um neun noch die in regelmäßigen Abständen aufgestellten Thermometer 39 Grad anzeigen.

In den Straßen der Altstadt klingt aus einem Saal in der ersten Etage ein Flamenco vom Tonband, dazu das Klappern von Kastagnetten und das Tocken von Absätzen – eine Tanzschule hält dort ihre Abendstunde. Eine Seitenstraße weiter klingt die klimpernde Musik eines Organillo, einer Mischung zwischen Drehorgel und Pianola, aus einer kleinen Bar heraus, und drinnen dreht sich ein Paar vor der Theke zu einem Zarzuela-Lied, einem alten Schlager aus der spanischen Operette.

Die Bar heißt „El Oso y el Madroño“ – der Bär und der Erdbeerbaum. Das zottige Raubtier, das aufrecht stehend von den roten Baumfrüchten nascht, ist das Wahrzeichen von Madrid. Beide sind längst ausgerottet, weder Bären noch Erdbeerbäume gibt es auf den Hügeln um die Stadt, aber Madrid gibt es immer noch, laut und schmutzig, mit breiten Straßen und dunklen Gäßchen, mit düsteren Kirchen und gleißendem Sonnenlicht, mit den Luxusgeschäften im Stadtviertel Salamanca und den armen Bettlern in der Metro, mit den Schätzen des Prado im Zentrum und dem Ring aus Wohnsilos und Barackensiedlungen um die Stadt herum – immer wieder anders, jeder entdeckt sein Madrid, und alle Bilder sind zusammengesetzt ein zerbrochener Spiegel dieser Metropolis, die mit ihren Prachtbauten der Jahrhundertwende auf der Gran Via, eröffnet vom Metropolis-Hochhaus, mehr in Richtung USA denn nach Europa orientiert.

Eine Stadt der Schaufenster, der Vorspiegelungen, der Angabe manchmal – ein schöner Schein, hinter dessen Fassade es bröckelt. Aber trotz Armut und Korruption, trotz Verschwendung und Umweltkollaps – auf der Plaza Mayor wird getanzt, wenn ein Fest am Himmel steht.

„Hay que aprovechar“ – man soll genießen, was sich bietet, und die Gelegenheit beim Schopfe packen – morgen kann alles zu Ende sein. Ein barocker Lebensgeist, der sich nach Madrid gerettet hat, um zu überleben.