„Ich bin innerlich kaputtgegangen“

Bei den Schilderungen der Überlebenden des mörderischen Solinger Brandanschlages wird es still im Gerichtssaal / Mevlüde Genç: Ich habe keinen Haß  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Mevlüde Genç hat lange geschwiegen. Wenn sie während der letzten Monate im Düsseldorfer Gerichtssaal in den Reihen der Nebenkläger saß, wußte sie stets ihren Schmerz über die grausam zu Tode gekommenen Opfer gut zu verbergen. Doch gestern öffnete die 51jährige Mutter und Großmutter, die in der Nacht zum Pfingstsamstag im vergangenen Jahr ihre beiden Enkeltöchter Hülya (9) und Saime (4), ihre beiden Töchter Hatice (18) und Gürsun (27) sowie ihre zwölfjährige Nichte Gülustan verlor, ihr Herz. „Ich möchte bitte“, so beginnt sie ihre Aussage, „daß man mir zuerst ein Recht einräumt, von meinen Gefühlen zu berichten.“ Im dem festerlosen, hochgesicherten Gerichtssaal verstummen alle Geräusche.

Gesenkten Hauptes verfolgt der einzige Geständige der vier angeklagten jungen Männer, Markus Gartmann, wie die gläubige Frau die grausamen Folgen der mörderischen Tat schildert. Es sind ganz ungewohnte Töne für einen deutschen Gerichtssaal. Dem Vorsitzenden des sechsten Strafsenats, Richter Wolfgang Steffen, bezeugt sie zunächst ihren „Respekt“ und fügt dann wörtlich hinzu: „Ich fühle mich als eine Schwester von Ihnen.“

Schwester- und Brüderlichkeit zu leben über alle ethnischen Grenzen hinweg, dafür wirbt die gefaßt und konzentriert sprechende Frau immer wieder während ihrer knapp dreistündigen Vernehmung. Einringlich schildert sie die Qualen, die ihr schwerverletzter 16jähriger Sohn Bekir seit dem Brandanschlag erleidet. Sie hat bei ihrem ersten Besuch im Krankenhaus „keine Stelle“ finden können, „um ihn zu küssen oder zu umarmen“. Der ganze Körper verbrannt und von Verbandsmitteln zugedeckt. Als Bekir das erste Mal Monate später in den Spiegel schaut, ist er geschockt. Ein Ohr fehlt, die halbe Gesichtshälfte ganz entstellt. Er weint, schämt sich, scheut jeden Kontakt mit Fremden. Sie schildert, wie sie versucht hat, die Qualen ihres Sohnes zu lindern, und fragt dann in den Gerichtssaal: „Wem habe ich etwas angetan? Warum ist das geschehen? Wir sind doch alle Geschwister eines Gottes.“

Und sie konfrontiert alle im Gerichtssaal ganz direkt mit der alles entscheidenden Frage. Woher kommt der Rassismus, woher kommt dieser Haß? Wie ist diese innerliche Verrohung von jungen Leuten überall in Deutschland möglich, die sie so weit gehen läßt, ohne jede Skrupel andere Menschen niederzubrennen. Mevlüde Genç glaubt die Antwort zu kennen: „Eltern zeigen ihren Kindern nicht genügend Liebe.“

Jeden Morgen hat sie ihren Kindern vor dem Schulweg gesagt, sich mit „den deutschen Kindern gut zu verstehen“, sie als „Geschwister“ zu betrachten und mit ihnen freundlich umzugehen. „Sagen denn die deutschen Mütter und Väter ihren Kindern nicht, daß alle Geschwister sind und sie die ausländischen Kinder gut behandeln sollen?“ Jeder trage doch für sich und seine Kinder „selbst Verantwortung“. Und sie fügt gleich hinzu, wie sie selbst auch zukünftig diese Verantwortung zu praktizieren gedenkt: „Ich bin durch den Verlust meiner fünf Kinder innerlich kaputtgegangen, doch ich zeige trotzdem Liebe, damit sich diese Liebe fortsetzen kann.“ Nein, sie spürt „keinen Haß“, aber sie hofft „auf Gerechtigkeit“ und darauf, daß die Schuldigen bestraft werden. Sie hat 27 Jahre Deutschland „wie meinem Heimatland Liebe und Respekt bezeugt“, will weiter mit ihrer Familie hier leben und hofft darauf, daß Gesellschaft und Justiz in Deutschland gegen den Rassismus auf allen Ebenen vorgehen. Auch aus dem Prozeß in Düsseldorf schöpft sie Zuversicht. Sie hat die Hoffnung, daß die Verfolgung rassistischer Gewalt auch abschreckend wirkt, und sie gibt sich „sicher, daß die Täter bestraft werden“.

Für alle Überlebenden ist die Aussage über das Inferno der Brandnacht eine Tortur. So kontrolliert und gefaßt wie bei der starken, klugen Mutter und Großmutter gestalten sich dabei die Zeugenaussagen selten.

Schon im Schulbus spürte sie die bösen Blicke von R.

So bricht ihre 17jährige Tochter Fadime schon nach einigen Minuten in Tränen aus, als sie zu den Details jener entsetzlichen Nacht gefragt wird. Dem Angeklagten Christian R., der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte, ist sie in den Wochen vor dem Anschlag häufig im Schulbus begegnet. Sie hatte Angst vor ihm. Ihrer Freundin erzählte sie von den „bösen Blicken“ des Nachbarjungen. Das Leid der Überlebenden teilt sich diesem Angeklagten offenbar nicht mit. Sein gelegentlich kaum verborgenes, verächtliches Grinsen zeugt davon. Für Fadime ist der Mordanschlag täglich präsent: „Angst habe ich meistens abends. Da gehe ich nie aus dem Haus.“