Anklage nur gegen „kleine Fische“

■ Kriegsverbrechertribunal zu Ex-Jugoslawien ohne Täter

Genf (taz) – Die ersten Anklageschriften gegen Kriegsverbrecher in Ex-Jugoslawien werden sich lediglich gegen „kleine Fische“ richten. Das kündigte Chefankläger Richard Goldstone am Dienstag nach Gesprächen in Belgrad, Zagreb und Sarajevo an. Wenn im November die ersten Prozesse beginnen, werden insbesonders die Befehlsgeber und Täter der serbischen Seite, auf deren Konto nach den umfangreichen Untersuchungen einer UNO-Expertenkommission rund 80 Prozent aller Kriegsverbrechen gehen, wenig zu fürchten haben. Denn die fünf Staaten der „Bosnien-Kontaktgruppe“ haben Belgrad im Rahmen ihrer neuen „Interessenallianz“ mit Präsident Slobodan Milošević eine De-facto-Amnestie in Aussicht gestellt.

In der serbischen Hauptstadt hieß es denn auch, das Haager Tribunal sei ein „Akt der Diskriminierung“ gegen Rest-Jugoslawien. Eine Auslieferung serbischer Staatsbürger an ein internationales Gericht komme „zumindest vorläufig“ nicht in Frage. Diese Formulierung läßt Milošević die Möglichkeit, sich, falls notwendig, des bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić oder anderer Rivalen im innerserbischen Machtkampf durch die Auslieferung zu entledigen. Für den serbischen Präsidenten selber ist das Tribunal keine Bedrohung: Milošević, den die US- Regierung noch im Dezember öffentlich an die Spitze ihrer Kriegsverbrecher-Liste gesetzt hatte, erhielt in den letzten Wochen von Mitgliedern der Kontaktgruppe verläßliche Signale, daß er nicht mit einer Strafverfolgung zu rechnen habe, wenn er bei seiner Unterstützung für den „Friedensplan“ der Kontaktgruppe und bei der Blockade gegen die bosnischen Serben bleibt. Das wird offiziell zwar bestritten, von westlichen wie von russischen Diplomaten jedoch inoffiziell bestätigt.

Dasselbe Angebot gilt auch für den Oberkommandierenden der bosnisch-serbischen Truppen, General Ratko Mladić, sollte er sich – womit in der Kontaktgruppe gerechnet wird – demnächst von Karadžić lossagen. Chefankläger Goldstone wehrte sich zwar öffentlich gegen die Vorstellung, eine Friedensregelung und die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen seien unvereinbar. Doch tatsächlich sind ihm weitgehend die Hände gebunden. Denn obwohl seit Anfang 1993 immer wieder angemahnt, erhielt das Tribunal bis heute aus der New Yorker UNO-Zentrale nicht annäherend die benötigten Personal-und Finanzressourcen für Ermittlungsarbeiten.

Einige der RichterInnen – darunter international renommierte Juristen, die einen guten Namen zu verlieren haben – tragen sich deshalb seit geraumer Zeit mit Rücktrittsgedanken. In Den Haag wird inzwischen sogar davon ausgegangen, daß die große Mehrzahl von Prozessen nicht vor dem internationalen Tribunal, sondern – wenn überhaupt – vor nationalen Gerichten in Serbien, Kroatien und Bosnien stattfinden. In Sarajevo und Zagreb erfuhr Goldstone nach eigenen Angaben „volle Unterstützung“. Was die Zusage der kroatischen Regierung unter Präsident Franjo Tudjman wert ist, mutmaßliche Kriegsverbrecher an das Tribunal auszuliefern oder selber anzuklagen, muß sich allerdings erst noch zeigen. Bis heute wurde in Kroatien keine einzige Person unter dem Vorwurf des Kriegsverbrechens inhaftiert. Andreas Zumach