Verfassungs- patriotismus

■ betr.: „Demokratische Vater landsliebe“, taz vom 1.10.94

Die Begriffe Nation und Republik müssen sich nicht decken, damit das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft in einem Staat selbstverständlich wird. Nationalgefühl, Nationalbewußtsein und Nationalstolz können weiter unterschieden bleiben vom Staatspatriotismus. Der mag als Stolz auf eine demokratische Verfassungswirklichkeit berechtigt sein, um so mehr, wenn ein Staat nicht nur gleiche Rechte, sondern die Gesellschaft auch gleiche Chancen für alle gewährt. Damit Nationalismus bei uns und anderswo nicht mehr zur Hetze gegen Fremde einzusetzen ist, erscheint es aber eher sinnvoll, Nation und Staat begrifflich wieder voneinander zu trennen und die Begriffe Volk und Nation auf ihren kulturellen Gehalt zu begrenzen.

Wir sollten aufhören, die europäischen Staaten als Nationalstaaten zu bezeichnen. In allen europäischen Staaten gibt es hier kleine und dort große Gruppen, die sich nicht unbedingt als zur Staatsnation gehörig betrachten, die begrifflich zum jeweilen Nationalstaat gehört.

[...] Es ist nicht zuviel verlangt von einem Staat, unterschiedliche kulturelle Traditionen gleichmäßig zu fördern. Daß Menschen einer Nation in verschiedenen Staaten leben, sollte ebenso wenig ungewöhnlich sein, wie die Möglichkeit, daß Menschen unterschiedlicher nationaler Herkunft einen Staat bilden. Warum sollte der Stolz auf die eigene Nation, auf die eigene Kultur dabei von Staatsgrenzen abhängen? Über die sollte, wenn nötig, nicht mit mehr Emotionen gestritten werden als bei kommunalen Gebietsreformen über Gemeindegrenzen.

Daß in einem Staat wie den USA, aus vielen Staaten zusammengesetzt, geformt von Menschen aus vielen Nationen, ein neues Nationalgefühl entstand, das einen Verfassungspatriotismus einschließt, ist sicher nichts Verwerfliches. Für politische Rattenfänger aber könnte der Begriff Nation vielleicht etwas unbrauchbarer werden, wenn wir nicht mehr national, übernational und Nationalstaat einsetzen, wo staatlich, überstaatlich und schlicht der Staat gemeint ist. Schade nur, daß international für zwischenstaatlich und Nationalität für Staatsangehörigkeit nicht so leicht zu ersetzen sind, weil die Begriffe im angelsächsischen ebenso gebräuchlich sind, auch wenn dort state und nation wie bei uns nicht das Gleiche bedeuten. Dietrich Jahn, Hannover

Demokratie ist mir ein hohes Gut. Warum wir aber ausgerechnet einen demokratischen Nationalstaat „westlicher Prägung“ haben müssen, leuchtet mir nicht ein. Denn die Konferenz von Rio hat uns doch gezeigt, daß diese paar westlichen Demokratien genau deckungsgleich mit den paar reichen Ländern sind, die die Zerstörung unserer Erde zu 80 Prozent verursachen. Das ist kein Zufall, denn die paar westlichen Demokratien verpulvern zirka 75 Prozent der Schätze und Energien dieser Erde, beuten die armen Länder aus, laden dort auch noch ihren Giftmüll ab und sind Nutznießer einer neuen Weltordnung und ihrer Weltwirtschaftsordnung, bei der jeden Tag – auch heute – 100.000 Menschen qualvoll verhungern.

Unsere Demokratien westlicher Prägung können kein Modell für die Zukunft sein, denn sie basieren auf unserem einseitigen ungerechten Reichtum und maßlosen Konsum. Sie können eine gerechte Weltwirtschaftsordnung nicht zulassen.

Was bliebe bei uns wohl von den „Demokratien westlicher Prägung“ übrig, wenn wir selber in dem tödlichen Elend leben müßten, welches wir anderen Völkern damit bereiten? Ludwig Baumann,

Wehrmachtsdeserteur, Bremen