Kohl wie Wattenscheid

■ Ein müder Kanzler in der Stadthalle und eine Liebeserklärung an Frau Motschmann

Also am Anfang ging das damit los, daß wir reingekommen sind. Wir schon, aber neben uns da haben sie einen angehalten und gefragt, warum der so ausgebeulte Taschen hat und der soll die doch mal leermachen. Wie an der Zonengrenze früher. Wollte der erst nicht, aber der von der CDU, so ein dicklicher Junger mit Funkgerät, den haben wir auch schonmal im Fernsehen gesehen, also der ist dann bißchen wütend geworden und dann hat der andere seine Taschen leergemacht. Waren aber keine Pistolen undsoweiter drin. Da durfte der dann auch rein. Mußte man aber auch verstehen, schon vonwegen Sicherheit und so und schließlich ist es ja der Kanzler.

Drinnen waren auch schon viele andere, und draußen waren ja auch viele gewesen. Als ob Werder zuhause gegen Wattenscheid spielen würde, so viele Leute ungefähr. Ganze Menge Junge, aber mehr so Ältere, aber am meisten so mittelalte mit Schlips und die Frauen frisch von der Sonnenbank. Solche waren viel, deshalb war ja auch Stau schon am Stern, weil die alle mit Auto waren, aber wir waren ja mit Fahrrad. Mit Bussen waren welche gekommen, sogar aus Ludwigshafen ein ganzer Bus voll älterer Herrschaften. Dabei können die den Kohl doch zuhause angucken, könnte man meinen. Aber die Stadthalle sollte ja auch voll werden. Und das ist für die Menschen aus dem Süden ja auch mal schön, daß die rauskommen und schließlich war es ja Freitag abend und das ganze Wochenende war noch vor ihnen. Blöd nur, daß noch kein Freimarkt ist.

Überall war unheimlich viel Sicherheit. Im Foyer vor der Halle und drinnen erst recht. An den Wänden längs, in den Gängen, auf den Rängen – überall standen welche mit Funkgeräten und Windjacken und guckten immer so streng. Aber wir haben gar nicht zurückgegeguckt, sondern unsere Plätze gesucht, und es wurde langsam voller und die Blaskapelle spielte: „Wenn das Wasser vom Rhein goldner Wein wär“. Dann wär das von der Weser immer noch salzig, aber der Kanzler kommt ja von da weg und man muß Verständnis haben.

Das mit den vielen von der Sicherheit wär gar nicht nötig gewesen. Den ganzen Abend hat es bloß eine Handvoll Leute gegeben, die mal dazwischengerufen haben, der Kohl täte lügen und so, und ein paar haben rote Socken geschwenkt. „Alles bloß, damit der Kohl seine Sprüche machen kann“, sagte einer. „Die sind doch alle bezahlt.“ Kann man mal sehen, soweit denkt unsereins gar nicht.

Unten in der Halle war's dann doch ziemlich voll. Wie das oben war, das konnte man gar nicht richtig sehen, weil die hatten an jedem Platz so Fähnchen hingesteckt, wo hintendrauf die Schwarzrotgold- und die Europafahne war und vorne CDU draufstand. An jedem Platz war was und man wußte gar nicht, was jetzt Fähnchen war und was Leute. Mein Nachbar hat dann bei seinem Fähnchen was abgerissen und dann stand da bloß noch „DU“ und dann hat er ganz verliebt geguckt und gesagt, das wär für Frau Motschmann. Die war nämlich auch da. Ein stiller Verehrer. Überhaupt waren alle Bremer CDUler da, ein paar haben auch oben auf der Bühne sitzen dürfen, die kannte man gar nicht, sollen aber auch wichtig sein, sagte der Motschmann-Verehrer, und der kennt sich bei denen aus.

Und dann gab's auf einmal ein unheimliches Geschiebe im Gang und dann standen alle auf und klatschten und vor uns war ein Fotograf ganz hibbelig auf den Tisch gestiegen und dann sagte einer, gerade ist der Kohl vorbeigekommen.

Dann hat erst der Neumann geredet und gesagt, daß das die größte Wahlkampfveranstaltung in Bremen wäre und daß mehr als 9.000 Leute da wären. Das mit Watterschein und Werder war also gar nicht so schlecht geschätzt. Dann hat der Neumann gesagt die FDP wär blöd, weil sie mit der SPD und den Grünen regiert, und man solle doch deshalb bei der Wahl zweimal CDU ankreuzen. Die FDP würde das auch so schaffen. Und was passieren würde, wenn rot-grün regieren würde, das hätte man ja am 3. Oktober sehen können. Und dann hat er nochmal Kohl gelobt und dann war der dran.

Der hat vielleicht geredet – anderthalb Stunden, ohne Halbzeit und nichts. Erst wars ja noch ganz klasse, so gegen die SPD, weil die mit der PDS zusammengehen wolle, sagt Kohl. Und er als Jugendlicher hätte damals im Hungerwinter 46/47, als die Kartoffeln knapp waren in Mannheim Kurt Schumacher gehört und der hätte ja schließlich gesagt, die Kommunisten wären rotlackiert Faschisten. Aber jetzt wär die SPD ja eingebrochen in der Sache, deshalb CDU. Da war ja noch Zug in der Veranstaltung und die Leute haben geklatscht und sich gefreut. Aber dann wurd's doch ziemlich zäh und hinter uns ist einer richtig eingeschlafen, daß der Kopf immer so vornüber gefallen ist. Und der Kohl hat geredet und geredet von den Rentnern im Osten, daß es denen besser geht und überhaupt vom Aufbau Ost und daß Europa stärker gemacht werden solle, sonst wird alles wie auf dem Balkan. Geredet hat der, als ob es gar nicht mehr ums Gewinnen bei der Bundestagswahl ginge, sondern als ob er gerade zum Bundespräsidenten gewählt worden wäre. Der Sieger-Kohl wurde sicherer und sicherer, und die Leute wurden matt und matter. Nur einmal noch haben sie doll geklatscht, als er sagte, im Frühjahr hätten alle gedacht, er wäre am Ende, „und jetzt sind wir wieder da, ganz einfach wieder da“. Aber da wünschten sich die meisten ganz einfach wieder weg. Zwischendurch standen auch immer wieder Junge auf und sind einfach gegangen.

Alles wie Wattenscheid: Nach der ersten Offensive verläppert das Spiel und am Ende wollen alle nur noch heim. Draußen im Foyer gabs dann noch Brausetabletten. Das war das beste. Jochen Grabler