Sexuelle Gewalt und patriarchale Justiz

Der Deutsche Juristinnenbund lud am Wochenende nach Berlin: Diskutiert wurden dringend nötige Reformen des Sexualstrafrechts, wie bei der Vergewaltigung in der Ehe  ■ Von Julia Albrecht

Berlin (taz) – In Zeitungen füllen Prozeßberichte über sexuellen Mißbrauch ganze Seiten. Bei der Polizei nehmen die Anzeigen wegen sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder zu. Und die Diskussion über den Mißbrauch des Mißbrauchs ist in vollem Gange. Auf die Gesetzgebung allerdings hat sich das nicht ausgewirkt. Alle Reformversuche, alle Vorschläge verschiedener Parteien, Bundesländer und Verbände werden mit dem Ende dieser Legislaturperiode hinfällig. Lediglich ein kleines Reförmchen wurde in diesem Jahr noch umgesetzt: die Anhebung des Verjährungsbeginns bei sexuellem Mißbrauch auf das 18. Lebensjahr des Opfers. „Die größten Verhinderer“, so die Regierungsdirektorin im Bundesfrauenministerium, Renate Augstein, „sitzen im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages.“ Dort sind bis auf eine Frau nur Männer vertreten, und deren Rechtsverständnis stützt sich auf die alte Vorstellung vom „sexuellen Verfügungsrecht des Mannes“, so die Vertreterinnen des Deutschen Juristinnen Bundes (DJB). So gibt es noch immer den sogenannten „minder schweren Fall“ bei der Vergewaltigung, der dem „typischen Stereotyp veralteter patriarchaler Vorstellungen“ entspricht. Trotz dieser Widrigkeiten hat sich der DJB am vergangenen Wochenende auf einer Tagung in Berlin erneut mit der Reform des Sexualstrafrechts befaßt und in zweitägiger Arbeit alte und neue Vorschläge gebündelt. Zum Beispiel eine Überarbeitung des Paragraphen 177 StGB, der bisher nur die außereheliche Vergewaltigung unter Strafe stellt. Nach den Vorstellungen der Reformerinnen muß sich die Vorschrift auch auf Vergewaltigungen in der Ehe erstrecken und ebenso den oralen und analen Geschlechtsverkehr erfassen. Wichtiger noch sei eine Überarbeitung des Gewaltbegriffs. Wo immer es um sexuelle Gewalt geht, wird von den Gerichten der Gewaltbegriff sehr eng, als Zwangseinwirkung auf den Körper, ausgelegt.

Gewalt fand nicht statt

Konsequenz: Ein Adoptivvater hatte seine 11jährige „Tochter“ aufgefordert, schon einmal ins Schlafzimmer vorzugehen und sich auszuziehen. Das Mädchen reagierte nicht darauf. Daraufhin trug der Täter das Mädchen ins Schlafzimmer, zog sie aus und vollzog mit ihr den Beischlaf. „Ich war ganz sicher davon ausgegangen, daß das Gericht bei dieser Handlung von Gewalt ausgehen würde“, erinnert sich die Staatsanwältin Dagmar Freudenberg aus Göttingen. Doch das Gericht wertete die Passivität des Kindes als „nicht aktives und freudiges Ergreifen“ der Situation. Das Hinübertragen diente dem Täter, so die Richter „zum bequemeren Durchführen der Tat“. Gewalt fand in den Augen der Richter nicht statt. Um solch absurden Wertungen ein Ende zu machen, fordert der DJB die Ersetzung des Gewaltbegriffs durch die Formulierung „gegen den Willen“. Auch müsse eine neue Norm geschaffen werden, so die Kieler Strafrechtsprofessorin Monika Frommel, die das „fortwährende“ Handeln des Täters unter Strafe stellt. In vielen Fällen erstrecke sich sexueller Mißbrauch über Wochen, Monate und Jahre. Nur selten aber können die Kinder angeben, an welchen Tagen, zu welcher Stunde genau, die Taten stattfanden. Ausgesprochen günstig wirkt sich das für die Täter aus. Sie können nämlich nur für konkret nachgewiesene Taten bestraft werden. Diesem Umstand könnte ein sogenannter Dauerstrafbestand Rechnung tragen. Neben einer Reform der eigentlichen Strafrechtsnormen geht es den Juristinnen aber auch um flankierende Maßnahmen zum Schutz der Opfer. Eines der Ziele: Kindliche Opfer sollten nur einmal als Zeugen verhört werden und nicht, wie die Regel, zunächst von der Polizei, dann von der Staatsanwaltschaft und später, meist erst nach ein bis zwei Jahren, vom Gericht. Dafür müßten Staatsanwaltschaft und Polizei besser zusammenarbeiten und bundesweite Sonderdezernate einrichten. Außerdem sei erwägenswert, die erste Vernehmung mit Video aufzunehmen, dessen Verwertbarkeit in der Hauptverhandlung zuzulassen, um dem Opfer die spätere Konfrontation mit dem Täter zu ersparen.

„Die Haft wirkt Wunder“

Eine verkehrte Welt sehen die Juristinnen darin, daß es grundsätzlich die Mütter sind, die bei Gewalt in der Familie die Wohnung mit den Kindern verlassen und in Frauenhäuser oder zu Bekannten fliehen. Hier sollte die zivilrechtliche Möglichkeit, einen Täter aus der Wohnung zu verweisen, verbessert werden. Gleichzeitig sollten Sexualtäter leichter in Untersuchungshaft genommen werden können. „Bei der oberen Mittelschicht wirkt selbst ein ganz kurzzeitiger Haftaufenthalt Wunder“, referiert die Juristin Susanne Baer aus Berlin. Schließlich wird gefordert, daß die Opfer ihren Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadenersatz vor den Zivilgerichten leichter und effektiver durchsetzen können. Diese müßten verpflichtet werden, das vorangegangene Strafverfahren und die Höhe der Strafe zur Grundlage für die Berechnung eines Schmerzensgeldes zu machen. Doch in der Bundesrepublik sind auch hier die Wertungen ad absurdum geführt. In den USA legt eine hohe Strafe ein hohes Schmerzensgeld nahe. „Die Logik des Bundesgerichtshofs (BGH) geht in die entgegengesetzte Richtung“, erklärt die Berliner Anwältin Alexandra Goy. Bei einer hohen Strafe bedürfe es laut BGH keines hohen Schmerzensgeldes, weil der „Genugtuungsfunktion“ schon durch die Strafe Rechnung getragen wurde. Goy: „Da wird wieder einmal der Täterperspektive, nicht aber der des Opfers Rechnung getragen.“