Hauptsache sauber, satt und still

Immer noch müssen die meisten Menschen, die sich im Alter nicht alleine versorgen können, in Heime ziehen, in denen es anonym und seelenlos zugeht  ■ Von Jeannette Goddar

„Alles weg, die Wohnung, die Rente, alles ist weg.“ Da ist sie wieder, die ständige Angst, die das Leben für die 82jährige Gertrud Hoge (Name von der Redaktion geändert) seit vier Jahren jeden Tag zu einem Kampf werden läßt. Angst, vergessen zu werden, Angst, daß keiner kommt, wenn sie ruft, Angst, daß sie niemand auf die Toilette bringt, weil die Schwestern wieder einmal Wichtigeres zu tun haben. „Machen Sie doch in die Windeln“, sei ihr schon zugerufen worden.

„Ja, Oma, wir bringen dich noch mal aufs Klo, bevor wir gehen.“ Ihre 21jährige Enkelin legt ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Das schlimme ist, daß wir uns nicht einmal beschweren dürfen, wie Oma hier behandelt wird“, erklärt sie. „Das fällt doch alles auf sie zurück.“

Gertrud Hoge ist eine von 327 BewohnerInnen des Krankenheims Tempelhof und eine der wenigen, die ihre sieben Sinne noch beisammen hat. Über 70 Prozent der Männer und Frauen im Durchschnittsalter von 83 Jahren hier sind „desorientiert“. In Krankenheimen leben Menschen, die in Seniorenheimen nicht (mehr) gepflegt werden können. Auf einen Platz in den von allen ungeliebten Krankenheimen warten Frauen im Moment durchschnittlich sechs, Männer neun Monate.

Etwa 23.000 BerlinerInnen fristen ihr Dasein in 250 Seniorenheimen, weitere 3.200 in 27 Krankenheimen. Mit ihrem Umzug sind sie selbst für ihre Lobbyisten so gut wie verschollen. Weder 1993 noch 1994 habe Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) sich zu Seniorenheimen geäußert, teilt deren Pressestelle nach heftigem Durchforsten der Archive mit. „Wir wissen nicht viel über das Leben in Heimen, die Leute sprechen nicht darüber“, teilt auch das Berliner Büro der „Grauen Panther“ mit. Der Bund Deutscher Senioren (BDS) schafft es immerhin seit elf Jahren, für die Bewohner eines Heims einen Besucherdienst zu organisieren. Durch ihre Anwesenheit bekommen sie „die Schwierigkeiten mit. Wir versuchen, die Lage, die durch das überforderte Personal entsteht, zu verbessern“, erzählt der Vorsitzende des BDS, Heinz Nadler.

Was aus dem Alltag der Heime durchsickert, verdeutlicht die Tristesse eines Heimaufenthalts. Um mit wenig Personal viele Menschen zu versorgen, wird der Alltag möglichst gleichförmig gestaltet: Auf die Minute genau zur gleichen Zeit wird gegessen, gewaschen etc. Sowohl Zivildienstleistende als auch Bewohner berichten von einem erschreckend routinierten Umgang mit den alten Menschen. Hauptsache, alle sind sauber, satt und still. Einem Bewohner des Seniorenheims Tempelhof wurde es vor ein paar Jahren zu bunt, daß die Heimleitung seiner Ansicht nach die „Menschenwürde und die Rechte der Bewohner mit Füßen tritt“. Erich Gröger stellte sich mit einem Transparent um den Hals tagelang vor das Rathaus. Als alles nichts nützte, trat er in den Hungerstreik. Zu guter Letzt wechselte er das Heim.

Gertrud Hoge protestiert nicht. Sie beklagt sich leise bei ihrer Familie. Und die ist mittlerweile sauer. Die Vorwürfe an die Mitarbeiterinnen reichen von rüder Behandlung über Vernachlässigung bis zum Diebstahl und zur unrechtmäßigen Einbehaltung des ohnehin kargen Taschengeldes. „Sie glauben nicht, was hier alles wegkommt und unterschlagen wird“, erzählen sie.

Andere sind skurrilerweise rundum glücklich, daß sie ihre Mutter oder ihren Vater hier untergebracht haben und loben die Betreuung über den grünen Klee. Schwester Monika, Leiterin des Pflegedienstes im Krankenheim Tempelhof, beschreibt den Konflikt von einer anderen Seite: „Die Bewohner sind sauer, weil sie sich abgeschoben fühlen, die Angehörigen haben ein schlechtes Gewissen und das Heim ist an allem schuld.“ Sie verteidigt das Pflegepersonal, erzählt von Bewohnern, „die alle fünf Minuten rufen, sie müßten auf die Toilette“ und von Angehörigen, „mit denen man schon ganz massiv reden mußte“. Schließlich seien sie es, die die alten Menschen 24 Stunden erlebten und nicht nur bei Kaffee und Kuchen.

Daß das sehr nach Routine klingt, ist wohl normal nach vielen Jahren Arbeit in diesem Heim. Dabei müßte alles nicht so sein. Zahlreiche Konzepte versuchen, der Tristesse des Heimalltags neue Modelle des Zusammenlebens mit Alten entgegenzusetzen – von der Errichtung von Häusern mit betreuten Wohnungen und Pflegestationen unter einem Dach bis zum generationenverbundenen Wohnen. Durchgesetzt wurde bisher kaum etwas davon.