Zum zweiten Mal innerhalb von zwanzig Monaten ist in der Ostsee eine Autofähre gekentert / Risiken wie nachlässig verzurrte Lasten sind längst bekannt und dürften auch bei der „Estonia“ ausschlaggebend gewesen sein Von Reinhard Wolff

Kommerz vor Sicherheit

Kommerz geht offenbar mittlerweile immer mehr zu Lasten der Sicherheit im Fährverkehr. Die Havarie der „Estonia“ ist zwar das schwerste Fährunglück aller Zeiten in Europa – aber damit bildet sie nur den Höhepunkt einer ganzen Serie von Unglücken in den letzten Jahren. Wie schon bei der „Jan Heveliusz“ vor einem Jahr – damals kamen 58 Menschen ums Leben – spielte wohl auch bei der „Estonia“ eine Lastverschiebung auf dem Autodeck die größte Rolle, möglicherweise zusammen mit einem Ausfall der Maschinen und einer nicht ordnungsgemäß geschlossenen Einfahrluke. Diese Erklärungen zeichneten sich gestern Nachmittag nach ersten Aussagen von Überlebenden des in der Nacht vor Finnland gesunkenen Schiffes ab.

Die Gefährlichkeit des Fährverkehrs ist allgemein bekannt. Nur wenige Wochen ist es her, seit die schwedische Seesicherheitsbehörde die „Verschlechterung des Sicherheitsstandards der Fähren in der Ostsee“ beklagte, ohne allerdings Namen zu nennen. Und vor gerade zwei Wochen trafen sich VertreterInnen der nordischen Transportarbeitergewerkschaften mit baltischen Regierungsvertretern, um über den Anschluß der unter baltischer Flagge registrierten Schiffe an internationale Sicherheits- und Arbeitsschutzkonventionen zu verhandeln. Ohne Ergebnis.

Zum zweitenmal innerhalb von 20 Monaten ist in der Ostsee eine Fähre des Bautyps gekentert, dem sich jährlich in Ost- und Nordsee 40 Millionen Passagiere anvertrauen: Roll-on-roll-off-Schiffe mit offenem Autodeck, deren Balance durch Verschiebung der Ladung oder relativ geringfügigen Wassereintritt mit katastrophalen Folgen verschoben werden kann.

Daß zum Zeitpunkt des Kenterns der „Estonia“ ein in der Ostsse in dieser Stärke im übrigen nicht ungewöhnlicher Sturm herrschte, kann den Untergang nicht erklären. Laut übereinstimmender Einschätzung von Sten Andersson und Peter Hoffsten, Beamten der schwedischen Seesicherheitsbehörde, die das Schiff persönlich kennen, kann ein Schiff von der Größe – 15.000 Bruttoregistertonnen – und dem technischen Zustand der „Estonia“ auch Stürme ohne Probleme überstehen. Als einzige Erklärung für das Unglück bleibe eine Verschiebung der Last. Kippe ein einzelner Anhänger im Seegang um, weil er nicht ordnungsgemäß verzurrt war, könne dies zu einer Kettenreaktion führen. Den gleichen Effekt hätte das Verschieben von schwerer Ladung innerhalb von Trailern oder Containern.

Diese gestern allgemein vermutete Unfallursache würde eine Parallele zum letzten schweren Fährenunglück in der Ostsee, dem Untergang der polnischen Fähre „Jan Heveliusz“ am 14. Januar 1993 vor der Insel Rügen bedeuten. Damals kenterte die Fähre in schwerem Orkan wegen einer Lastverschiebung. Obwohl die Gefahr der Lastverschiebungen seitdem auf der Hand liegt, ist bis heute praktisch nichts passiert, diesen Schwachpunkt des Fährverkehrs zu entschärfen.

Dabei haben in der Vergangenheit wiederholt schwedische Lastwagenfahrer, die im Baltikum beladene Trailer in schwedischen Häfen übernahmen, die mangelnde Befestigung der Ladung bemängelt. Teilweise sollen Lasten von 25 Tonnen ohne jegliche Sicherheitsfestigung auf Trailern verladen worden sein.

Die Fährbesatzungen haben zudem praktisch keine Möglichkeit, die Befestigung der Ladung innerhalb von Containern, Güterwaggons und LKWs zu überprüfen. Hierfür sind die Speditionsfirmen zuständig. Oft weiß nicht einmal der Chauffeur selbst, daß er mit möglicherweise völlig unzureichend befestigter Ladung unterwegs ist. Gewerkschaften und Organisationen der Seeleute fordern daher seit dem „Jan Heveliusz“- Unglück verstärkt eine Kontrollpflicht der Fährbesatzung. Eine Forderung, die von den Fährreedereien bislang nicht aufgenommen wurde, weil dies zu einer wesentlich teureren, weil längeren Liegezeit der Fähren in den Häfen führen würde.

Im Ostseefährverkehr ist seit der Öffnung Osteuropas eine neue Konkurrenzsituation entstanden. Immer mehr der vorher in Schweden, Finnland, oder Deutschland registrierten Fährschiffe wurden in Billigflaggenländer ausgeflaggt. So auch die früher unter schwedischer Flagge fahrende „Estonia“, die eine „billige“ estnische Besatzung bekam. Gleichzeitig achten die Reedereien darauf, die Besatzungen so klein wie möglich zu halten und die Liegezeiten in den Häfen so weit wie möglich zu verkürzen. Seemannsgewerkschaften beklagen seit Monaten einen kräftig gestiegenen Streß beim Be- und Entladen aufgrund der verminderten Besatzungen und der kürzeren Liegezeiten. Normalerweise muß jeder Trailer und Lastwagen mit kräftigen Seilen und Ketten im Autodeck festgezurrt und jedes Rad mit Holzkeilen verkeilt werden, um auch die kleinste Bewegung der Fahrzeuge zu vermeiden. Etwas, was aber tatsächlich nur ausnahmsweise geschieht und offenbar von vielen Fährbesatzungen als zu zeitraubend angesehen wird.

Sollte die Lastverschiebung und das Unglück tatsächlich bei abgestellten, also havarierten Schiffsmotoren geschehen sein, wie von der Reederei vermutet, würde dies die These, daß Kostenverminderung offenbar auch zu Lasten der Sicherheit in Kauf genommen wird, noch zusätzlich bestätigen: Maschinenstopps waren in der Vergangenheit wiederholt für Schiffsunglücke gerade mit Billigflaggenschiffen verantwortlich und gelten bei den Seesicherheitsbehörden als klarer Hinweis für Versäumnisse bei der Wartung. Bei den gängigen Sicherheitschecks der Behörde werden die Maschinen nur äußerlich inspiziert. Die einzige Anmerkung, die Schwedens Seesicherheitsbehörde bei der letzten Kontrolle hatte, bezog sich allerdings ausgerechnet auf den als verschmutzt und unzulässig verölt eingeschätzten Maschinenraum. Auch eine undichte Bug- oder Heckklappe, die als weitere Unfallursache in Betracht kommt, soll noch vorgestern von schwedischen Ingenieuren, die zu Ausbildungszwecken auf der „Estonia“ waren, moniert worden sein.

Schwedens neugewählter Ministerpräsident Ingvar Carlsson erklärte in einer ersten Stellungnahme im schwedischen Fernsehen, daß seine Regierung Änderungen und neue Vorschriften durchsetzen wolle: „Wir hatten in den letzten Jahren in Skandinavien drei schwere Fährunglücke. Im Frühjahr 1990 den Brand der „Scandinavian Star“, im letzten Jahr die „Jan Heveliusz“ und jetzt die „Estonia“. Das ist nicht akzeptabel. Es darf nicht sein, daß Streß der Besatzung zu einem Sicherheitsproblem wird.“ Ähnliche Stellungnahmen hatte es nach dem „Jan Heveliusz“-Unglück gegeben, ohne daß seither eine Verschärfung der Sicherheitsvorschriften im Ostseefährverkehr vorgenommen worden wäre.