Endstation

Monolog einer schlaflosen Greisin  ■ Von Gabriele Goettle

Hallo ... hallo, ist da niemand? Bitte, kommen Sie doch für einen Augenblick zu mir herein ... ich sitze hier schon die längste Zeit ohne Nahrung, ohne Wasser ... hallooo!

Bei mir ist anscheinend alles ausgeflogen oder weggezogen, wer weiß das schon. Mich hat man zurückgelassen. Ich liege hier in dieser Klause, mutterseelenallein, kein Mensch läßt sich sehen, bis auf diese ... ich denke Aufwartefrau ... ich sah sie nur von hinten. Ich glaube, sie ist von da drüben gekommen, hat hier kurz den Boden befeuchtet und ist dann dort zwischen den Schränken verschwunden ... auf Zehenspitzen ist sie davongeschlichen. Tagsüber war ich vollkommen einsam, in der Nacht klingelte mehrmals das Telefon, aber niemand meldete sich. Am Tage zeigte sich immer noch keiner, und wenn doch, dann dermaßen undeutlich, daß ich mir die ganze Nacht ein Rätsel darauf machen mußte.

Ich habe es versucht mit Schreien, mit Rufen, mit einem Telefonat ... alles hat nichts geholfen, keiner ist bisher gekommen. Das hat mich gewundert, man hört mich doch schreien? Ich habe den Verdacht, daß man mich abgeschrieben hat. Ich soll hier elendiglich krepieren ... die Abendpost wird mir auch nicht mehr zugestellt. Einen Brief bekam ich vor längerer Zeit, in dem stand, daß meine Angelegenheiten alle geregelt sind. Aber da bin ich skeptisch, bis heute warte ich auf eine fernmündliche Bestätigung.

Ach, was sich jetzt hinzieht, das ist mir fremd ... so viele Freundschaften habe ich gehabt, Alfred und Hannele, Doris Kaiser ... ich weiß nicht mehr, wie sie alle heißen. Keiner hat nach mir gefragt, keiner, und auch nicht dieser nette Doktor Lutz! Ich weiß nicht, was ich machen soll, so verlassen war ich noch nie.

An sich bin ich sehr dafür, daß die Familie zusammenhält, aber es gibt Momente ... meine Tochter ist nun fast siebzig und angeblich ein Pflegefall ... ich kenne das Früchtchen, sie war schon immer erfolgreich als eingebildete Kranke. Aber mir kann's egal sein. Es ärgert mich nur, daß alle dort am Bett stehen und zu mir schaut kein Mensch herein.

Ich bin ganz korrekt ... war immer aufgeschlossen für die schönen Seiten des Lebens, aber nun, wo ich nur noch das Bett aufsuche, geht das alles nicht mehr. Jedes Laster hat für mich Folgen, sie sagen: keinen Alkohol, keine Zigaretten, Pralinen und Fondants sind mir auch nicht erlaubt, ein Stück Torte kann mein Tod sein ... daß es einmal so weit kommt ... ich wollte das alles nicht, das können Sie mir glauben. Wirklich, ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Am 16., da bekam ich zum letzten Mal eine Fleischspeise und etwas Wein ... ich glaube, es war ein Bordeaux. Seither gab man mir nichts mehr zu essen. 1917 habe ich auch einmal drei Tage lang gehungert. Auf den Tisch kamen diese schrecklichen Hülsenfrüchte und wenn man Glück hatte, gab's etwas harte Wurst dazu.

Ich tat mein Bestes. Ich hätte eine Theaterkarriere machen können, doch ich habe mir ein zweites Standbein ausgebaut, wollte mehr als andere Leute haben von meinem Leben. Nur, der Gatte war dann doch nicht nach meinem Geschmack und auch die Mutterrolle lag mir überhaupt nicht. Aber wer konnte das denn vorher schon wissen? Heute sage ich mir mindestens fünfmal am Tage, daß jetzt Schluß sein muß ... mein Mann soll endlich für sich gradestehen, die hohen Kosten, die er verursacht, muß er schon selber tragen. Ich jedenfalls bin nicht mehr auf dem Posten, das ist medizinisch nachgewiesen.

Als ich noch viel, viel jünger war, da dachte ich, es muß getan werden, das Tagewerk. Meiner Ansicht nach ist das ein Irrtum, man muß die Arbeit Arbeit sein lassen, Punkt! 1912, es war im Winter, da habe ich eine Stickerei gemacht, graublau auf gelber Seide, es waren Pflanzenornamente, glaube ich. Käthe hat uns allen vorgelesen, den Hungerpastor von Raabe ... „Gib deine Waffen weiter, Hans Unwirsch!“ Oh, das habe ich bis heute nicht vergessen ... Trotzdem wurde mein Leben nicht, wie ich es erwartet hatte, daß es aber so trist werden würde ... daß jemand hinter mir steht und mich fragt: „Werden Sie heute etwas machen?“ und ich überlege, was meint sie denn, was „machen“?, und dann höre ich: „Pipi.“ Na, was soll ich dazu noch sagen! Elegante Schuhe, schöne Strümpfe, die viele teure Garderobe, alles umsonst ... es ist ganz egal, was einer will oder hat, man kann doch nicht damit rechnen, daß so was gut endet. Und Sie sehen ja, wenn es schiefgeht, werden alle den Mund halten. Wirklich, ich hänge nicht an meinen Sachen. An vieles kann ich mich nicht einmal erinnern. Hiermit fordere ich jeden Menschen auf: Nehmen Sie, soviel und was Sie wollen! Packen Sie's ein! Hauptsache, Sie sind zufrieden ... mehr als ich es war. Aber eins bitte ich zu beachten, meine Zigaretten rühren Sie mir nicht an, lassen Sie sie dort in Reichweite liegen! Alles andere ist meine Angelegenheit, j'ai encore un rendezvous ...

Jetzt hat sich die Uhr schon wieder um eine Stunde verdreht! Schlag um Schlag. Die macht, was sie will ... es ist zwei Uhr morgens und immer noch niemand zu hören. Noch drei Zeitungen muß ich lesen, dieses Häuflein hier ist erledigt, das kann weg! Entschuldigen Sie mich, aber der Mensch muß sich ja informieren ... was haben wir denn da ... oft ist das alles nur Kauderwelsch ... es ist immer dasselbe, schon solange wie ich Zeitung lese: Teuerung, Massenarbeitslosigkeit, Krieg und natürlich Gewalt, Gewalt, Gewalt! Jeden Tag, in jeder Stadt, auf der ganzen Welt ... Glauben sie nicht auch, daß vieles etwas übertrieben wird? Die meisten Bürger sind doch ordentlich, friedfertig ... aber letzten Endes ... das sind arme Tröpfe, die immer nur treu und brav das tun, was Sinn hat, was erlaubt und vorgeschrieben ist. Alles soll immer auf 0,1 stehen, wozu? Im Theater klatscht das Publikum an anderen Stellen, die dunklen Gestalten werden geliebt! Es gibt ja sehr viele Leute, die wissen nicht, was sie wollen! Aber das hat nichts zu sagen, was ich so denke, ob's nun positiv ist oder nicht, an den finanziellen Einbußen, die ich habe, ändert das nichts. Wir sind vom Aussterben bedroht, wir, die Alten, das ist Grund genug zur Besorgnis, da können wir uns nicht mehr um Mullbinden am Bein oder um Mädchenschänder kümmern! Wer sich nicht einfügen läßt, der bleibt draußen, das können Sie sich aufschreiben in Ihr dickes Heft. Man sagte mir als Mädchen: „Du sollst auf den Vater hören und dich fügen!“ Ich kann Sie alle nur warnen, man macht das einmal, zweimal, dann ist es zu spät!

Zugegeben, ich bin ein wenig aus dem Lot. Leider kann ich Ihnen keine Karte geben, ich habe keine Anschrift momentan, wahrscheinlich ist sie verlorengegangen, weg ... Und das ist nur eine von den vielen Kalamitäten, mit denen ich neuerdings zu kämpfen habe. Wo soll ich denn so schnell ein neues Engagement herbekommen? Wenn ich etwas glauben soll, dannn möchte ich glauben, daß ich – die ich hier sitze, tief in der Nacht, auf meinen Koffern, in diesem Fremdenzimmer, irgendwo in der Provinz – bald wieder an einem großen Haus spielen werde.

Es ist nicht so, daß man mich vergessen hat. Bewunderer aus dem Publikum grüßen mich auf der Straße wie gewohnt. Das ist eigentlich sonderbar, denn mein letztes Winterengagement liegt fast 30 Jahre zurück. Sehn Sie mal, so lange ist das nun schon her und doch beherrsche ich alle meine Rollen immer noch fehlerfrei ... mal sehn, was könnte ich denn mal ... gut, die Lady Milford habe ich immer sehr gerne gespielt ... sagen wir eine kleine Probe, vielleicht aus dem 4. Aufzug, 8. Auftritt. Luise ist also gerade abgegangen, ich, erschüttert, lege die Hand aufs Herz, eine Weile herrscht Schweigen, dann ... eh, Moment ... ich hab's, toi, toi, toi! [spricht deutlich prononcierter als zuvor]

Wie war das? Wie geschah mir? Was sprach die Unglückliche? – noch, o Himmel! Noch zerreißen sie mein Ohr, die fürchterlichen, die mich verdammenden Worte: Nehmen Sie ihn hin! – Wen, Unglückselige? Das Geschenk eines Sterberöchelns – das schauerliche Vermächtnis deiner Verzweiflung! Gott! Gott! Bin ich tief gesunken – so plötzlich von allen Thronen meines Stolzes herabgestürzt, daß ich heißhungrig erwarte, was einer Bettlerin Großmut aus ihrem letzten Todeskampfe mir

Fortsetzung auf Seite 16

Fortsetzung von Seite 15

zuwerfen wird! – Nehmen Sie ihn hin! Und das spricht sie in einem Tone, begleitet sie mit einem Blicke ... Ha! Emilie! bist du darum über die Grenzen deines Geschlechts weggeschritten? Mußtest du darum um den prächtigen Namen des großen britischen Weibes buhlen, daß das prahlende Gebäude deiner Ehre neben der höheren Tugend einer verwahrlosten Bürgerdirne versinken soll? – Nein, stolze Unglückliche! Nein! – Beschimpfen läßt sich Emilie Milford ... beschämen nie! Auch ich habe die Kraft zu entsagen.

So weit, so gut. Nachdem ich mich also nun ein wenig gefangen habe, beginne ich in stolzer Haltung auf und ab zu gehen während des Sprechens, immer zwischen Schreibpult und Tür ...

Verkrieche dich jetzt, weiches leidendes Weib! – Fahret hin, süße goldne Bilder der Liebe – Großmut allein sei jetzt meine Führerin! – Dieses liebende Paar ist verloren, oder Milford muß ihren Anspruch vertilgen und im Herzen des Fürsten erlöschen! Es ist geschehen! – Gehoben das furchtbare Hindernis – zerbrochen alle Bande zwischen mir und dem Herzog, gerissen aus meinem Busen diese wütende Liebe! – In deine Arme werf ich mich, Tugend! – Nimm sie auf, deine reuige Tochter Emilie! – Ha! Wie mir so wohl ist! Wie ich auf einmal so leicht, so gehoben mich fühle! – Groß, wie eine fallende Sonne, will ich heute vom Gipfel meiner Hoheit heruntersinken; meine Herrlichkeit sterbe mit meiner Liebe, und nichts als mein Herz begleite mich in diese stolze Verzweiflung!

Nun trete ich zum Schreibpult, um hastig meinen Brief an den Herzog aufs Blatt zu werfen.

Jetzt gleich muß es geschehen – jetzt auf der Stelle, eh die Reize des lieben Jünglings den blutigen Krampf meines Herzens erneuern.

Danke, danke, danke ... halten Sie sich nicht zurück mit Ihrem Applaus ... Und das bittere Ende ...

Ich verstehe euch, meine Guten – lebt wohl! Lebt ewig wohl! – Ich höre den Wagen vorfahren ...

Ja, so ist das Leben nun mal ... mir muß man nicht soufflieren! Ich habe so manches Schicksal am eigenen Leibe erfahren. Daß ich Ihnen ganz persönlich diese kleine Vorstellung gebe, ist ein Freundschaftsbeweis und ein Dank dafür, daß Sie mir so geduldig zuhören, denn die meisten Menschen wissen ja nicht, was sich gehört, sie schneiden einem immerfort das Wort ab. Für mich ist das furchtbar, denn ich bin ja eine der wenigen, die nicht nach Worten suchen muß; noch nicht ...

Die anderen Schauspielerinnen hier, alles Damen von Welt, sagte man mir, höre ich nur noch stammeln. Die meisten haben fast alle ihre Texte vergessen ... zum Beispiel fragte mich gestern eine wesentlich jüngere Dame, die anscheinend auch nicht mehr arbeitet, folgendes: „Könnten Sie bitte so freundlich sein und mir meinen Einsatz geben? Hedda Gabler, erster Akt, Auftritt Heddas, ich brauche den Text für Tante Julchen ... er will mir nicht einfallen!“ Na, man höre und staune ... ich war keine Chargenspielerin, das können Sie sich denken. Ich hatte mich damals sehr früh, als eine der wenigen Frauen, fürs Charakterfach entschieden. Nun, ich konnte der Dame behilflich sein, die Hedda habe ich noch so einigermaßen intus. Aber nach einigen Sätzen blieb sie hängen, da war nichts mehr zu machen. Sie erklärte mir dann alles durch ein vorübergehendes Augenleiden, sagte: „Ich war Mitglied eines sehr geschätzten Ensembles, wir hatten oft 15 bis 20 Vorhänge bei den Premieren.“ Wen soll das beeindrucken? frage ich mich. Zehn Vorhänge sind viel für ein normales Stadttheater.

Mir muß man nichts erzählen, ich sah einmal, ein einziges Mal in meinem Leben, wie einer durch den eisernen Vorhang geklatscht wurde ... der große Ernst Deutsch ... er war ungeheuer faszinierend, mit diesem merkwürdigen Gesicht ... jedenfalls kam der eiserne Vorhang – der ja an sich im Brandfalle nur herabgelassen wird oder in solchen absoluten Ausnahmemomenten – mitten in dem tobenden Applaus langsam von oben runter. Es wurde vollkommen still, Ernst Deutsch trat durch das kleine Türchen hinaus und nahm sehr gerührt die Ovationen entgegen. Später mußte er weg aus Deutschland, er war ja Jude.

Es gibt außergewöhnliche Talente, und Schauspieler, die ihre Arbeit gut machen. Es gibt ehrgeizige Blender, und tüchtige, ehrliche Kolleginnen und Kollegen. Alle Temperamente. Aber alte kranke Frauen, die ihre Texte vergessen, die gibt es nicht! Wenn so ein Moment gekommen ist, kann man jeder nur noch raten, von ihrer Rolle zurückzutreten, bevor sie dazu gezwungen wird. Wenn ich nicht mehr kann, muß ich kapitulieren! Dann scheide ich aus, das ist meine heilige Pflicht! Ich beispielsweise, trainiere unentwegt mein Gedächtnis, lege mir überall Zettelchen hin, damit ich meinen Text lerne; die besonders schweren Passagen präge ich mir so ein. Andererseits, man kann ja von keinem Menschen verlangen, sich Sätze zu merken, die ihn nichts angehen, auch wenn sie schon tausendmal gesagt wurden! Es ist manchmal direkt wie ein Schmerz und ich sage mir: Nie wieder denken! Es gibt Tage, an denen rede ich kein Wort. Onkel Arnold hat seit Kriegszeiten nichts mehr gesagt.

Ab jetzt ... Liebchen, kein Wort mehr!

Frau K. hielt diesen Monolog in einer Vollmondnacht im Juli. Während die seit Jahren blinde, 94jährige ehemalige Schauspielerin in die Dunkelheit ihres Einzelzimmers hinein sprach, explodierten 770 Millionen Kilometer über dem Dach des Pflegeheimes die Trümmer des Kometen Shoemaker-Levy auf dem Jupiter.