Amsterdams Alte unterwegs

Die Mitglieder des Senioren-Netzwerks „Gilde Amsterdam“ wollen von einem „geruhsamen Lebensabend“ nichts wissen  ■ Aus Amsterdam Henk Raijer

„Amsterdam war schon immer eine lebendige Stadt.“ Er meint es nicht mal ironisch, der ältere Herr mit dem schneeweißen Haar, während er amüsiert, wenn auch leicht melancholisch, die Symphonie der Großstadt um sich herum betrachtet: in der Oude Hoogstraat tobt der Sommerschlußverkauf, zu Tausenden schieben sich die Käufer durch die enge Gasse. Auf einer der hübschen Brücken an der Oudezijds Voorburgwal wird offen gedealt, zwei Fixer betteln Touristen an. Beidseitig der Gracht locken Sexshops und Huren in Glasvitrinen derart aufdringlich mit ihrem Angebot, daß kaum noch jemand die architektonischen Besonderheiten zur Kenntnis nimmt, die den siebzigjährigen Jan Turk am alten Zentrum so faszinieren.

Der gebürtige Amsterdamer liebt sein Mokum, wie die alten Einwohner ihre Stadt in Anlehnung an das jiddische Makam (Stadt oder Zuhause) nennen. „Diese sogenannten Auswüchse, Drogen, Kriminalität, Prostitution – das hat es, als ich jung war, in diesem Viertel doch auch gegeben“, sagt der Mann, der in den zwanziger Jahren an der Hand seines Großvaters die Welt der Kaffeebarone und jüdischen Patrizierfamilien erkundete, aber auch die der Zuhälter und Jazzmusiker kennenlernte. „Klar, es ist schade, daß die Leute Amsterdam aus Angst vor Dieben und Drogensüchtigen meiden. Aber obwohl das heute dazugehört – es gibt das Schöne, das Interessante trotzdem.“ Und weil er stolz ist auf seine Stadt, zeigt er sie anderen. Zu Fuß.

„Mee in Mokum“ (Unterwegs in Mokum) nennt sich die alternative Führung zu den Sehenswürdigkeiten Amsterdams. Neben Jan Turk zeigen 115 weitere rüstige Rentner Spaziergängern Baudenkmäler, umfunktionierte Kirchen, besetzte Häuser und andere Preziosen und Kuriositäten der niederländischen Hauptstadt – unter ihnen ehemalige Architekten, Kunsthistoriker, aber auch Lehrer, Manager, Steinmetze, ein Friseur, einige von ihnen über achtzig Jahre alt. Und es sind vor allem ihre Erzählungen, die Geschichten hinter den oft schnuckeligen Fassaden, die die Rundgänge durch die alte Innenstadt und das jüdische Viertel so attraktiv machen. „Wenn es auf Erfahrung ankommt“, lautet der Slogan jener Organisation, die „Mee in Mokum“ ins Leben gerufen hat – als erstes von inzwischen fünf gemeinnützigen Projekten. Die 1984 gegründete Stiftung „Gilde Amsterdam“ ist ein inzwischen über die Landesgrenzen hinaus bekanntes Senioren-Netzwerk, dem sich bislang etwa 400 Bürgerinnen und Bürger über Fünfzig angeschlossen haben, mit dem Ziel, berufsbedingtes Wissen und (Lebens-)Erfahrung weiterzugeben. Aus der Erkenntnis, daß immer mehr Menschen vorzeitig aus dem Arbeitsprozeß ausscheiden, sich aber gleichzeitig längerer Gesundheit erfreuen, erwuchs in Anlehnung an das Prinzip der mittelalterlichen Zünfte (nied.: gilden) die Idee, Erfahrung und Können einer schon abgeschobenen Generation zu bündeln, um sie der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Unentgeltlich.

Während in den europäischen Nachbarländern den Kompetenzen älterer Leute keinerlei Wert beigemessen wird, die meisten Rentner daher ihren „verdienten Ruhestand genießen“, haben die vitalen Alten Amsterdams ihren Lebensabend längst wieder zum Tag gemacht. „Wir wollen unsere Erfahrungen nicht verkümmern lassen, wollen weder unter uns bleiben noch von der Gesellschaft separiert beschäftigt oder unterhalten werden“, sagt „Gilde“-Vorstandsmitglied C. Van Stiphout. Der 66jährige ehemalige Abteilungsleiter koordiniert seit vielen Jahren die Rundgänge durch Amsterdam. „,Mee in Mokum‘ ist unser Vorzeigeprojekt, jährlich nehmen rund 20.000 Menschen aus dem In- und Ausland daran teil“, erzählt er nicht ohne Stolz. Von dem Unkostenbeitrag (vier Gulden) bestreitet „Gilde“ laufende Ausgaben. Als Konkurrenz zu den „Guided Tours“ sähen sie sich nicht, meint van Stiphout, „Anfragen von kommerziellen Reiseunternehmen lehnen wir ausdrücklich ab. Schließlich arbeiten wir mit Freiwilligen und ausschließlich im Non-profit-Sektor.“

Neben den „alternativen“ Fremdenführern, die sich bei „Mee in Mokum“ engagieren, bieten mehrere hundert Amsterdamer über das hauseigene Anzeigenblatt Gilde Gids ihre Dienste jedem an, der sie in Anspruch nehmen will. Kostenlos. Klempner berät bei Sanitärinstallationen, trockene Alkoholikerin betreut bei Entzug, Manager im Ruhestand gibt Anfängern Tips bei Unternehmensgründungen, ehemaliger Kameramann hilft bei Videoprojekt, Lehrerin möchte Immigrantinnen Niederländisch beibringen, Ex- Personalchefin berät bei Bewerbungsschreiben, Biologe hilft beim Kompostieren, Kenner des Krankenversicherungswesens zeigt den Weg durch den Gesetzesdschungel... Über das gelbe Heftchen mit dem Eulen-Logo, das einmal im Jahr erscheint und durch wöchentliche Anzeigen in den Lokalausgaben der Zeitungen aktualisiert wird, finden inzwischen jährlich etwa fünftausend Amsterdamer den Weg zu ihrem jeweiligen Experten. Acht ehrenamtliche Mitarbeiter sind zuständig für die Vermittlung zwischen Anbieter und Interessenten. „Wir betonen bei unseren Vermittlungsgesprächen immer wieder, daß unsere Anbieter nur beratend tätig werden, erklären, wie's geht“, so van Stiphout. „Und daß ihre Leistungen kostenlos sind.“

Dieses Prinzip gilt auch für den Einsatz der aktiven Alten im sozialen Bereich. 350 bis 400 hauptstädtische Non-profit-Organisationen nehmen regelmäßig die Dienste des „Ehrenamtlichen Senioren- Service“ in Anspruch. Auch sie werden durch die „Gilde“-Zentrale in der Amsterdamer Hartenstraat 18 vermittelt. „Wir prüfen vorher ganz genau, ob die ,Arbeitgeber‘ unseren Freiwilligen eine adäquate Umgebung für ihr Engagement bieten, vor allen Dingen, ob diese Institutionen die Vakanzen nicht doch mit einer bezahlten Kraft besetzen könnten oder gar Gewinne erzielen“, erklärt der stellvertretende Zunft-Chef, der zwischenzeitlich immer wieder zu einem der Telefone eilt, um Anfragen weiterzuleiten, den Computer im Nebenraum zu durchforsten oder „Mee in Mokum“-Buchungen in ein großes schwarzes Buch einzutragen. Die Motive dieser Freiwilligen sind ganz unterschiedlich. Nicht wenige möchten einfach da weitermachen, wo sie aufgehört haben. Andere, die aus fachfremden Berufen kommen, wollen „endlich was für die Gemeinschaft tun“. So habe man gerade gestern einen ehemaligen Banker an einen Jugendklub vermittelt, wo er künftig zweimal die Woche hinterm Tresen stehen wird.

Wer etwas Sinnvolles machen oder ganz was Neues kultivieren will, aber noch nicht weiß, wo seine oder ihre Kompetenzen liegen, dem öffnet „Wegweiser“, das vierte „Gilde“-Projekt, die Tür zu neuen Aktivitäten. Eine Arbeitsgruppe aus einem ehemaligen Berufsberater, einem Schuldirektor, einer Gesprächstherapeutin und einem Sozialpädagogen unterstützt die Freiwilligen bei ihrer Suche nach Möglichkeiten, in der kommenden Lebensphase Aufgaben zu übernehmen – sei es in den Bereichen Schulung, bezahlte Arbeit, berufliche Fortbildung, Sport, Hobbys oder eben in „Gilde“-Projekten. Daneben bekommt „Gilde Amsterdam“ Anfragen aus allen Landesteilen, um den inzwischen etwa hundert lokalen „Gilde“-Projekten, die mit Anfangsschwierigkeiten zu kämpfen haben, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Denjenigen, die sich lieber ihrer Vergangenheit widmen, bietet „Gilde Amsterdam“ die Möglichkeit, mit Ehemaligen aus derselben Berufssparte zusammenzukommen. Im Rahmen des Projekts „Erzählte Vergangenheit“ haben bis jetzt ehemalige Hebammen, Zigarrenhersteller, Taubenzüchter und Flugzeugbauer in Gesprächsrunden das Charakteristische ihres Handwerks sowie Anekdotisches herausgearbeitet, protokolliert und als Büchlein herausgegeben. Das ist naturgemäß ein endliches Projekt – was aber manchen durchaus recht ist.

Finanziert wird die tägliche Verwaltung der Organisation durch Subventionen der Stadt und den Einnahmen aus „Mee in Mokum“. Neben zwei bezahlten Mitarbeitern, einer von ihnen ist der Initiator und heutige Direktor von „Gilde Amsterdam“, Wout van Doornik, kümmern sich 35 ehrenamtliche Mitarbeiter, einige von ihnen an die Achtzig, um Buchführung, Vermittlung und Koordination der Aktivitäten. „Wir haben einen ganz guten Draht zum Bürgermeister und seinem Kämmerer“, meint van Stiphout. „Die Stadtverwaltung schätzt unser Angebot, eine bessere PR kann es ja auch kaum geben.“ Und wenn man es genau nehme, argumentiert der Verwaltungsexperte verschmitzt, müßte die Stadt „Gilde“ eigentlich reichlicher unterstützen; schließlich entlaste seine Zunft deren Etat, denn alte Menschen, die körperlich und geistig gesund blieben, nähmen doch die Versorgungseinrichtungen weniger in Anspruch.

Auch seitens der Europäischen Union hat es eine Finanzspritze gegeben: „35.000 Gulden (etwa 30.000 Mark) haben wir 1993 aus Brüssel bekommen, um unsere Philosophie auszutragen, die da lautet, daß die Gesellschaft auf den Beitrag, den die ältere Generation aufgrund ihrer gelebten Erfahrungen zu leisten imstande ist, nicht verzichten kann. Mit dieser Summe haben wir Dokumentationsmaterial erstellt und Vortragsreisen in Deutschland, Österreich, England, Irland, Italien, Dänemark und Belgien finanziert.“ So unterhalte „Gilde“ ausgezeichnete Kontakte zu der Berliner Senioren-Initiative „Anti Rost“, auch wenn die, das möge man ihm nicht übelnehmen, sagt er selbstbewußt, ihre Mitglieder nach wie vor nur „beschäftigt“.

Die Amsterdamer Alten haben tatsächlich das Empfinden, gebraucht zu werden; die Kommunikation untereinander hebt die Isolation auf, durch den Kontakt mit den Jüngeren fühlen sie sich aufgewertet. Und: Die Arbeit macht Spaß. Zweifellos macht auch Jan Turk die Rundgänge durch Mokum zu seinem eigenen Vergnügen. Aber als einer, der mittlerweile seit acht Jahren dabei ist, weiß er, daß die Spaziergänger seine reiche Erfahrung, seine Geschichten zu schätzen wissen. Einmal die Woche ist der pensionierte Beamte der städtischen Bauverwaltung für „Mee in Mokum“ mit maximal acht Teilnehmern drei bis vier Stunden in seinem Revier unterwegs. „Wenn Führungen auf englisch, deutsch oder französisch gebucht werden, muß ich schon mal eine Extraschicht einlegen“, sagt er, während er seine Gäste mit dem Gerüche-Universum des ältesten Kaffee- und Gewürzegeschäfts Amsterdams vertraut macht. Der Weg führt vorbei an der Condomerie am Ende der Warmoestraat, und auch die Organisation, die in der Barndesteeg saubere Spritzen an Junkies verteilt, ist eine Geschichte wert.

Nur in der Zuiderkerk fällt es ihm, wie er sagt, meist schwer, unbefangen deutsch zu sprechen. Zehntausende von Opfern des „Hungerwinters“ 44/45 wurden in dieser Kirche „zwischengelagert“, weil für eine ordentliche Bestattung das Holz fehlte. Er selbst war zu jener Zeit, als sein Volk vom Nachbarn allzu innig umarmt wurde, nicht in der Stadt; 1942 von der SS verschleppt, mußte er in Leipzig Zwangsarbeit leisten und fand sich bis Kriegsende wegen Führerbeleidigung sogar anderthalb Jahre im KZ wieder. „Da habe ich also, was Amsterdam betrifft, eine Erfahrungslücke.“