Die Lernbrücke muß stabiler werden

Die Mauern zwischen Arbeit und Bildung müssen fallen. Rund eine Million Menschen könnten sich auf einer „Lernbrücke“ fortbilden – und wieder in die gewandelte Arbeitswelt einscheren. Aber der Bildungsmarkt muß sich ändern.  ■ Von Günther Schmid

Aus traditioneller Perspektive ist eine Gesellschaft vollbeschäftigt, wenn keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit herrscht. Als reguläre Beschäftigung gilt dabei gemeinhin der Full-time-Job. Das sind anerkannte Prämissen. Vollbeschäftigung muß unter ihnen jedoch als ein utopisches Ziel erscheinen.

Eine vollbeschäftigte Gesellschaft dieser Art entspricht auch nicht mehr den Wünschen vieler Menschen, schon gar nicht denen der jüngeren Generation. Zudem ist es sogar strittig geworden, Vollbeschäftigung überhaupt noch zu wollen. Warum auch? Politisch zahlt es sich immer noch besser aus, die Inflation zu bekämpfen statt der Arbeitslosigkeit. Die neoklassische Wirtschaftswissenschaft lieferte mit der Theorie der „natürlichen Arbeitslosigkeit“ die Rechtfertigung dazu. So konnten Politiker hohe Arbeitslosenzahlen mit einer Geste der Resignation hinnehmen – gerade so, als ob sie von blinden Naturkräften und nicht von gesellschaftlichen Bedingungen verursacht werde.

Inzwischen freilich hat die „natürliche Arbeitslosenquote“ einen rekordverdächtig hohen Stand erreicht: Aufschwung hin oder her, die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren mittelfristig eine „Beschäftigungslücke“ von 6,5 Millionen Menschen. „Stille Reserve“ und „versteckte Arbeitslosigkeit“ sind da noch gar nicht eingerechnet. Ein solcher Berg von Arbeitslosigkeit, der auf einem soliden Massiv von Dauerarbeitslosen ruht, läßt sich auch hinter ideologischen Nebelschwaden nicht mehr verstecken.

Die neue Qualität der Vollbeschäftigung

Vollbeschäftigung ist möglich! Damit diese alte Formel wieder zu ihrem Recht kommt, sind drei Bedingungen nötig:

I. Vollbeschäftigung muß als Ziel eine neue Qualität bekommen.

II. Massenarbeitslosigkeit muß wirklich bekämpft werden.

III. Es müssen Übergangsarbeitsmärkte geschaffen werden. Diese sollen die bislang allzu dicht abgeschotteten Übergänge zwischen dem Sektor Arbeitsmarkt und seinen angrenzenden sozialen Systemen freimachen. Zwischen dem Arbeitsmarkt auf der einen Seite und dem Bildungssystem, der Arbeitslosenversicherung, den privaten Haushalten und der Verrentung auf der anderen muß ein flexibleres Hin und Her entstehen. Zwar gibt es bereits jetzt Formen solcher öffentlich finanzierter Übergänge – Fortbildung und Umschulung, Arbeitsbeschaffung, vorzeitige Verrentung. Bei einem konsequenten Ausbau könnten weitere 1,5 bis 2 Millionen Menschen beschäftigt werden, um dann wieder oder erstmalig in den regulären Arbeitsmarkt einzumünden. Auch damit kann Arbeitslosigkeit zwar nicht beseitigt werden, aber es wäre ein Element einer grundlegenden Neudefinition von Vollbeschäftigung und ihrer organisatorischen Umsetzung.

Sehen wir uns beispielhaft den Bildungssektor an. Die von der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit geförderte Zahl von Fortbildnern und Umschülern entspricht bereits jetzt einem Vollbeschäftigungsäquivalent von rund 625.000 Personen. Tatsächlich wäre es aber möglich, schon mittelfristig rund 800.000 „Bildungsplätze“ auf diesem Übergangsarbeitsmarkt zu finanzieren. Rechnet man den „Teilzeitarbeitsfaktor“ von zur Zeit 15 Prozent hinein, so hieße das: Die Gesellschaft leistet sich eine öffentlich geförderte „Lernbrücke“, die sehr viel mehr Menschen aufnehmen kann als die bisherigen Maßnahmen. Auf ihr könnten in Voll- oder Teilzeit 920.000 Menschen beschäftigt und fortgebildet werden. „Fortbilden“ hieße im doppelten Sinne ein „Dazulernen“ für die sich wandelnden Arbeitsplätze ebenso wie ein „Weiterlernen“ für das Leben außerhalb der Arbeit. Sowohl aus individueller wie aus volkswirtschaftlicher Perspektive ist das sinnvoll.

Weder handelte es sich dabei nämlich um Arbeitslose, die – gegen sinkendes „Honorar“ – zum Nichtstun gezwungen werden. Um Menschen also, denen sowohl der Lebenssinn als auch die innovative Verwendungsfähigkeit abhanden zu kommen droht. Noch wären diese „Brückenköpfler“ jene Menschen, die im Arbeitsprozeß verharren müssen, weil sie Angst haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Denn Massenarbeitslosigkeit ernährt sich selbst. Sie schreckt Menschen davor ab, den tagtäglichen Trott zu verlassen, um sich fortzubilden – und wieder eine reguläre Arbeit aufzunehmen.

Im übertragenen Sinne hieße die Forderung der Stunde: Reißt die Mauern zwischen dem Arbeitsmarkt und dem Bildungssystem ein. Das bedarf allerdings gleichzeitig eines Sinneswandels auf dem Arbeitsmarkt – beim Management als auch bei Beschäftigten – und eines Ausbaus des öffentlich geförderten Übergangs zwischen Arbeit und Bildung. Denn der ist noch reichlich unterentwickelt.

Das Arbeitsförderungsgesetz kennt zwei Instrumente: den sogenannten Einarbeitungszuschuß und „Fortbildung und Umschulung“. Mit dem Einarbeitungszuschuß, den zuletzt noch ganze 2.200 TeilnehmerInnen in Anspruch nahmen, wird jedoch ein strategisch wichtiger Ansatz, die betriebsnahe Qualifikation verschenkt. Der Bereich der Fortbildung und Umschulung hält bereits jetzt ein Beschäftigungspotential, das rund 600.000 Vollzeitarbeitsplätzen entspricht. Eine Steigerung scheint kaum mehr möglich.

Einen neuen Spielraum eröffnet jedoch die Weiterbildung von Beschäftigten. Es gibt einen erheblichen Qualifizierungsbedarf. Aber er kommt nicht zum Zuge. Dabei gibt es genug Beispiele auf nationaler wie internationaler Ebene, die zeigen, welche Bedeutung und welchen Stellenwert Bildung sowohl für die Unternehmen als auch für die Beschäftigten haben könnte.

Zukunftsgerechte Qualifizierung wird nur möglich sein, wenn die verstreuten Aktivitäten besser koordiniert werden. In Hamburg geschieht das zum Beispiel seit 1990 über eine Koordinierungsstelle Weiterbildung. Der Beratungsverbund bewegt Unternehmen dazu, ihren Fachkräftebedarf durch Qualifizierung von un- oder angelernten Beschäftigten aus dem eigenen Betrieb zu decken. Eine immer größere Rolle wird in diesem Zusammenhang auch das „Bildungsmarketing“ spielen. „Maßgeschneiderte“ Qualifizierungsstrategien verkaufen sich nicht von selbst. Sie müssen durch fachliche und organisatorische Kompetenz zusammengestellt, offeriert und implementiert werden.

In einem zweiten Schritt könnte eine Qualifizierungsoffensive dann den Arbeitsmarkt direkt entlasten. Indem Qualifizierung und Reintegration kombiniert werden: solange sich der Mensch mit Arbeitsplatz fortbildet, nimmt ein Arbeitsloser seine Stelle ein. Der Betrieb erhält dafür einen Lohnkostenzuschuß. Schweden geht diesen Weg. Dort werden trotz Rezession rund 12.000 gering Qualifizierte weitergebildet – und gleichzeitig ebenso viele Arbeitslose beschäftigt. Im Aufschwung erwartet man sich eine wesentlich stärkere Inanspruchnahme vor allem bei der Privatindustrie.

Dänemark wendet ein ähnliches Modell beim Bildungsurlaub an. Bis zu einem Jahr kann man sich bei Bezug des Arbeitslosengeldes beim nördlichen Nachbarn freistellen lassen. Und der Arbeitgeber erhält einen Lohnkostenzuschuß, wenn er den Arbeitsplatz in der gleichen Zeit mit einem Arbeitslosen besetzt.

Zusammen mit den Niederlanden bildet Dänemark die Avantgarde der beruflichen Weiterbildung. Lebenslanges Lernen heißt dort: systematisches Nachqualifizieren. Paritätisch besetzte Branchenausschüsse planen; die landesweite Anerkennung ist so gesichert. Bezahlt wird ebenfalls paritätisch über einen Weiterbildungsfonds, den Arbeitnehmer und Arbeitgeber speisen.

In den Niederlanden spielen Weiterbildungsfonds und -märkte eine große Rolle. Viel stärker als hierzulande sind die Unternehmen beispielsweise dazu übergegangen, Weiterbildung auf dem Markt zu kaufen. Die spezielle Form der beruflichen Bildung – es gibt die duale Ausbildung kaum –, hat zudem dafür gesorgt, daß ein regelrechter Tausch entsteht, bei dem beide Partner erheblich profitieren: die Unternehmen erhalten Qualifikationsleistungen von den meist öffentlichen regionalen Weiterbildungszentren – und liefern dafür moderne Maschinen, an denen ausgebildet wird. Das ist eine andere Form des Dualen Systems, die sehr wirkungsvoll neue Technologien tauscht: hie das qualifizierte Personal, da der neueste technische Stand.

Beschäftigung, nicht Joblosigkeit versichern

Wir brauchen eine Politik, die die starren Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und anderen nützlichen – einschließlich eigennütziger – Aktivitäten fließender gestaltet. Das hieße, unsere rechtlichen und sozialen Institutionen so auszugestalten, daß fließende Übergänge möglich werden. Eine Konsequenz dieser Politik wäre die Ausgestaltung unserer Arbeitslosen- zu einer Beschäftigungsversicherung. Das heißt, unter bestimmten Bedingungen erwirbt man sich Anrechte darauf, in die genannten Übergänge einzutreten. Sprich: von Voll- in Teilzeitarbeit zu wechseln, Erziehungsurlaub zu nehmen, sich gleitend in die Rente zu verabschieden oder in eine Weiterbildung zu gehen. Erst wenn sie rechtlich gesichert sind, dann können Übergänge oder „Brückenköpfe“ nicht mehr der Opportunität kurzsichtiger Tagespolitik zum Opfer fallen. Solche Übergangsarbeitsmärkte können einen effizienten Elastizitätspuffer schaffen: In Rezessionsphasen expandiert er und nimmt Erwerbsarbeitslose auf; in Expansionsphasen kontrahiert er. Übergangsarbeitsmärkte sind nicht nur eine sozial akzeptablere, sondern auch eine ökonomisch effizientere Alternative zu einer „Zweidrittelgesellschaft“, in der die einen zuviel und die anderen zuwenig Arbeit haben.

Der Autor leitet die Abteilung Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung am Wissenschaftszentrum Berlin