„Der sah doch ganz anders aus“

■ Neuer Prozeß gegen Stasi-Chef Mielke wegen Besorgnis der Befangenheit eines Richters unterbrochen / Richter Bräutigam war unangemeldet in Mielkes Zelle

Berlin (taz) – Der neue Prozeß gegen den ehemaligen Stasi-Chef Erich Mielke vor dem Berliner Landgericht ist schon am ersten Prozeßtag wegen der Besorgnis der Befangenheit des Vorsitzenden Richters ins Stocken geraten. Der 86jährige steht wegen der Schüsse an der innerdeutschen Grenze erneut vor Gericht, nachdem das Verfahren gegen ihn im Honecker-Prozeß vorläufig eingestellt worden war. Den Vorwurf der Befangenheit stützt der Anwalt Stefan König auf einen unangekündigten Besuch des Vorsitzenden Richters Hansgeorg Bräutigam in Mielkes Zelle.

Am 29. September 1994 ließ sich der Vorsitzende die Zellentür des seit nunmehr fast fünf Jahren Einsitzenden aufschließen, um sich über den Gesundheitszustand des Angeklagten zu unterrichten. „Herr Mielke hantierte am Waschbecken, sah überrascht zu mir“ (Aus einem Vermerk des Vorsitzenden). Dann begrüßte der Vorsitzende den Angeklagten „freundlich“ und stellte sich seinerseits vor. Er fragte ihn, ob er wisse, wer er sei. Mielke antwortete, „er wisse nicht, nein“ (Aus dem Vermerk).

Mielke hatte den Besuch offensichtlich nicht richtig einordnen können. Zu seinem Anwalt sagte er: „Das war Bräutigam? Der sah doch ganz anders aus ...“ Die Besorgnis der Befangenheit, so König, ergebe sich daraus, daß auch bei einem solchen Besuch gewisse Förmlichkeiten zu beachten seien. Der Vorsitzende hätte sich vergewissern müssen, ob dem Angeklagten klar war, daß es sich um eine Vernehmung handelte. Auch hätte er die Intimsphäre des Angeklagten wahren und die Zelle umgehend verlassen müssen, als er feststellte, daß Mielke am Waschbecken stand. „Abgesehen von den rechtlichen Bedenken“, so König, „belegt auch dieser Umstand einen solchen Mangel an Fingerspitzengefühl, eine solche Verletzung der ungeschriebenen Regeln, daß allein dieser Umstand für sich genommen die Besorgnis der Befangenheit begründet.“ Mielke selbst, nachdem er von seinem Anwalt über den Besuch aufgeklärt worden war, fand das Verhalten des Richters „ungehörig“.

Schon im Honecker-Prozeß mußte Bräutigam seinen Vorsitz wegen Befangenheit aufgeben. Dort hatte er die Dummheit besessen, mit einer Lüge sein merkwürdiges Verhalten zu verdunkeln. Anstatt zuzugeben, daß er über die Anwälte einen Autogrammwunsch an Honecker hatte weiterleiten wollen, hatte er behauptet, es handele sich um eine normale „Postsache“. Bis Mittwoch könnte das Gericht darüber befunden haben, ob ihn auch seine jetzige Unachtsamkeit den Vorsitz kosten wird. Julia Albrecht