Bauernland in Genossenhand

Zwischen Improvisation und High-Tech führen ehemalige LPG-Arbeiter und ihr PDS-Bundestagsabgeordneter eine Agrargenossenschaft. Aber die „Insel des Sozialismus“ hat kaum Überlebenschancen  ■ Christoph Seils

Von der ehemaligen preußischen Domäne Schneidlingen, 30 Kilometer südwestlich von Magdeburg, ist nicht viel geblieben. Die Fenster im alten Gutshaus sind zugemauert, ein vergilbtes Schild sagt, daß die Ruine zuletzt das Feierabendheim der „LPG Egelner Mulde“ beherbergte. Umrahmt wird der riesige Gutshof von baufälligen Lagerhäusern und Viehställen. „Sie können die Ruine hier gerne fotografieren, aber schreiben Sie bloß nicht, so sieht es bei den Genossen aus“, ruft ein Arbeiter über den Hof.

Nicht er und seine Genossen sind es, die Treuhand ist's, die „hier alles verfallen läßt“. In der Werkstatt auf dem Hof schweißen zwei Schlosser einen schrottreifen Traktor. Hier soll ein florierendes Agrarunternehmen mit vierzig Mitarbeitern, sieben Millionen Mark Bruttojahresumsatz und rund 1.500 Hektar Ackerland seinen Sitz haben? Hier wollen sich Mitglieder und Sympathisanten der PDS als Genossenschaft im Kapitalismus behaupten?

Wo der Vorsitzende der Agrargenossenschaft und PDS-Bundestagsabgeordnete, Fritz Schumann, ist, scheint die Schlosser nicht zu interessieren. „Meistens ist der Fritze ja in Bonn, aber wenn sie verabredet sind, wird der schon irgendwann aufkreuzen.“ In der Werkstatt steht, in seine Einzelteile zerlegt, ein Mähdrescher vom Typ „Fortschritt HE 303“. Vor sechs Jahren noch war das der letzte Schrei der Sozialistischen Agrartechnik. Bei der laufenden Ernte wird die Maschine dringend gebraucht, doch die Reparatur ist mühsame Kleinarbeit. Ersatzteile für DDR-Landmaschinen sind kaum noch erhältlich, und der hinter den Ställen ordentlich aufgereihte Schrott wurde bereits ausgeschlachtet. Eine museumsreife AEG-Drehbank aus Vorkriegsproduktion hält her, um Ersatzteile anzupassen oder nachzubauen.

Die beiden Schlosser schwören auf die volkseigene Technik. „Komm' Se uns bloß nicht mit Westmaschinen. Unsere Traktoren sind robust.“ Aber eine der nächsten Genossenschaftsversammlungen wird sich doch mit der Frage beschäftigen müssen, ob endlich ein moderner West-Mähdrescher angeschafft wird, denn rentabel ist die Bastelei nicht. 24 Mitglieder hat die „Agrargenossenschaft Schneidlingen“, für 14 weitere Arbeiter ist die Genossenschaft lediglich der Brötchengeber.

Im Genossenschaftsbüro telefoniert die Buchhalterin lustlos ihrem Chef hinterher. Es scheint, als hätte hier nur jemand das Honecker-Porträt von der Wand genommen. Die mechanische Robotron- Schreibmaschine ist noch voll im Einsatz, nur das Piepen des Faxgerätes stört den Ausflug in die Vergangenheit. Schließlich trifft Fritz Schumann ein und flucht auf seine Sekretärin. Sie müsse doch wissen, daß er per Funktelefon jederzeit erreichbar sei.

Früher war das 1.600-Seelen- Dorf Schneidlingen reich. Hatte eine großzügige Kirche und ein Schwimm- und Hallenbad. Doch mit der Herrlichkeit ist es vorbei, seit im nahen Staßfurt die Chemie- und Fernsehindustrie abgewickelt wurde. „Wir würden das Gutshaus schon instand setzen, aber die Treuhand läßt uns nicht“, empört sich Fritz Schumann. Da die Treuhand im Dorf alle Flächen kontrolliert, hat sich die Genossenschaft längst auf die umliegenden Gemeinden ausgedehnt. Ackerland wurde von vielen Eigentümern gepachtet, nur nicht von der Treuhand.

Auch wenn einige Genossenschaftsmitglieder PDS-Genossen seien, spiele die Partei im Betrieb keine Rolle, erklärt Fritz Schumann. Aber für den PDS-Politiker hat die Genossenschaft zweifellos auch identitätsstiftende Momente. Sie sei eine „Identität von Eigentümern und Produzenten“. Mit Modellcharakter für Landwirtschaft, Gewerbe und Kleinindustrie. „Nur man darf die Leute nicht zwingen.“ Den Einwand, daß diese Form der Wirtschaftsdemokratie die Effektivität von Unternehmen behindere, läßt der PDS-Politiker nicht gelten. Im Gegenteil: „Mehr Demokratie in den Unternehmen motiviert die Mitarbeiter.“

Freiwillig wurden die Schneidlinger allerdings nicht Agrargenossen. Als die LPGs der DDR 1991 aufgelöst wurden, „blieb uns“, so Schumann, „keine andere Wahl“. Aber nur 24 von ehemals 513 LPG- Arbeitern verzichteten auf ihre Abfindung, zahlten statt dessen 5.000 Mark in die Genossenschaft und übernahmen eine Bürgschaft über 50.000 Mark, um ihren Arbeitsplatz zu erhalten. Mit den politischen Ambitionen ihres Chefs haben die meisten Genossenschaftsmitglieder wenig am Hut. „Ich kenne mein ganzes Leben nichts anderes als die Landwirtschaft“, gibt sich der 56jährige Rudi Regnier ganz pragmatisch. Daß die Entscheidung richtig war, sieht er an den vielen jüngeren Kollegen, die den Absprung in einen neuen Beruf versucht hätten und nun zu Hause sitzen. „Es ging doch um unseren Arbeitsplatz“, so sieht es auch sein Kollege Walter Hoyer. Zum Glück sei bislang nichts schiefgegangen, sonst „säßen wir jetzt mit einem Berg Schulden da“.

Walter Hoyer und Rudi Regnier haben keinen Grund zum Klagen. „Heutzutage muß man ja schon froh sein, wenn das Geld jeden Monat pünktlich auf dem Konto ist.“ Die rund 12 Mark Stundenlohn seien zwar nicht die Welt, aber was brauche man hier auf dem Lande schon? Über ihren Vorsitzenden verlieren die beiden kein schlechtes Wort. „Der hat viel für uns getan.“ Und wenn es drauf ankomme, „da kann der Fritze auch mit anpacken“. „Natürlich wählen hier alle PDS“, bestätigt Rudi Regnier und wundert sich, wie man daran zweifeln könne.

Zufrieden sind die beiden über die Ernte. Trotz großer Hitze ist sie besser als im Vorjahr ausgefallen. Den Weizen haben sie eingebracht, 5.000 Tonnen türmen sich in der riesigen Halle.

Mit der neuen Belüftung, die die Genossenschaftsmitglieder im Winter eingebaut haben, kann der Weizen jetzt bis zum Frühjahr lagern. „Kurz vor der neuen Ernte gibt es die besten Preise.“ Nur bei den Ackerbohnen hat das Unkraut-Ex nicht gewirkt, und so muß man nun per Hand die Unkrautsamen vom Viehfutter trennen.

Schnell und routiniert bauen die beiden aus einem Förderband und einem Rost ein riesiges Sieb. Auf einem Hänger fangen sie die Bohnen auf. „Improvisieren, das haben wir in der DDR gelernt.“

Natürlich lebt die Agrargenossenschaft nicht von Improvisation, überalterter Technik und EG-Beihilfen. Einen wichtigen Schritt zu einem modernen Agrarunternehmen hat die Genossenschaft Schneidlingen bereits gemacht. Stolz präsentiert Fritz Schumann im wenige Kilometer entfernten Groß Börnecke den soeben fertiggestellten High-Tech-Kuhstall. Per Computer und wissenschaftlich berechnet wird hier jeder Hochleistungsmilchkuh die angemessene Menge Kraftfutter zugeteilt. In engen Gattern aufgereiht, erfüllen hier 320 Kühe die EG-Milchquote. Rund um die Uhr sind die Mitarbeiter im Einsatz, nichts wird dem Zufall überlassen.

Auch wenn der Kuhstall nur mit staatlichen Hilfen errichtet werden konnte, gibt sich Fritz Schumann keinen Illusionen über die künftige Unterstützung hin. Zwar ist die Produktionsgenossenschaft die wichtigste Organisationsform in der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern. Doch in zwanzig Jahren soll es nach Ansicht des Bonner Landwirtschaftsministers Jochen Borchert in Ostdeutschland keine Genossenschaften mehr geben. Von der Bundesregierung werden Neueinrichter von Familienbetrieben bei den Investitionshilfen und bei der Landvergabe eindeutig bevorteilt. Doch viele ehemalige LPG-Arbeitern fragen sich, warum sie wie ihre Kollegen im Westen als Einzelbauern im Familienbetrieb mit überholten Agrarstrukturen rund 60 Stunden in der Woche arbeiten sollen. Für ein weit unterdurchschnittliches Einkommen.

„Die Vorteile der Genossenschaft“, so weiß es auch der PDS- Politiker Schumann, „die geregelte Arbeitszeit, soziale Absicherung, Urlaubsanspruch und regelmäßige Bezahlung, will niemand missen.“

Die Gleichbehandlung von Arbeitern und Mitgliedern ist in der Genossenschaft Schneidlingen wichtiges Prinzip. „Bei uns verdienen alle dasselbe.“ Nur der Vorstand bekommt einen Zuschlag. „Aber mehr als 50 Prozent sind“, so Fritz Schumann, „in der Genossenschaftsversammlung nicht durchsetzbar.“ Im nächsten Jahr aber könne vielleicht der Stundenlohn für alle um eine Mark erhöht und für die Genossenschaftsmitglieder endlich auch Gewinn ausgeschüttet werden.

Jeder Investition über 100.000 Mark müssen die Genossen zustimmen. „Wenn ich da keine überzeugenden Argumente vorbringe, kann ich als Vorsitzender einpacken...“ Über alles redet Fritz Schumann. „Es gibt in unserer Genossenschaft keine Geheimnisse.“ So soll die Identifikation mit dem Betrieb wachsen, damit die Mitarbeiter auch „Verzicht üben, wenn es mal nicht so gut läuft“. Ob Identifikation allein die Genossenschaft durch schlechte Zeiten bringt?

Sobald in der Region wieder Arbeitsplätze geschaffen werden, muß sich auch das Lohnniveau der Genossenschaften anpassen, sonst laufen die Fachkräfte weg. Wer auf dem Bau mehr als 20 Mark in der Stunde verdienen kann, wird sich auf Dauer nicht mit 12 Mark abspeisen lassen. Ein Mitglied des Genossenschaftsvorstandes hat sich bereits auf dem Arbeitsmarkt umgeschaut und sich anschließend beklagt, daß er nicht seiner Leistung als Führungskraft entsprechend bezahlt werde.

Längst ist dem Vorsitzenden klar, daß die Genossenschaft nicht als „Insel des Sozialismus“, sondern nur als marktwirtschaftlich und effizient geführter Betrieb eine Zukunft hat. Modernisierung und Rationalisierung, heißen die Stichwörter. Gelingt dies, könnte der Agrargenossenschaft Schneidlingen eine rosige Zukunft bevorstehen. Experten gehen davon aus, daß ein moderner Betrieb dieser Größe jedem Einzelbauern wirtschaftlich weit überlegen ist und langfristig selbst ohne EG-Zuschüsse sogar auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sein könnte. Aber bis sich die Schneidlinger Genossen mit Farmen in Übersee messen können, wird Fritz Schumann auf den Versammlungen der Agrargenossenschaft noch viel Überzeugungsarbeit leisten und gemeinsam mit der PDS gegen die westdeutsche Agrarlobby kämpfen müssen.

Rudi Regnier jedoch sind solche Zukunftsvisionen fern. Die paar Jahre bis zur Rente möchte der ehemalige LPG-Schäfermeister hier noch arbeiten, um sich dann als Hobby wieder der Schafzucht zu widmen. Wehmütig schweift sein Blick über die Gutsruine. „Früher, da hatten wir 1.800 Schafe, und ich war jeden Tag mit ihnen unterwegs.“