Schweigemauer um Atomfabrik

■ Die Bevölkerung im russischen Tscheljabinsk erfährt vom Atomministerium nichts über den jüngsten Nuklearunfall / Statt dessen Verhöre beim Geheimdienst

Berlin (taz) – Das russische Atomministerium hat gestern erneut beteuert, daß nach dem Unfall in der Plutoniumfabrik Majak (Tscheljabinsk-65) im Süd-Ural eine bedrohliche Situation entstanden sei. In der Stadt Tscheljabinsk, die nur 70 Kilometer von der ältesten sowjetischen Plutoniumfabrik entfernt liegt, glaubt derartigen Beteuerungen niemand mehr, zumal auch nach diesem neuesten Störfall keine Meßergebnisse veröffentlicht wurden. „Hier in Tscheljabinsk ist es schwierig, überhaupt relevante Informationen aus der Fabrik zu bekommen“, sagte Natalja Mironowa von der Tscheljabinsker „Bewegung für atomare Sicherheit“. Das Ministerium habe lediglich den Austritt von radioaktivem Cäsium-137 bei dem Brand eines radioaktiven Brennstoffbehälters bestätigt.

Noch immer ist „Tscheljabinsk-65“ eine geheime Atomstadt, in der 10.000 Menschen hinter Mauern und Stacheldraht abgeschottet leben. Nachdem in den letzten drei Jahren wenigstens ab und an Informationen aus der Plutoniumfabrik hinaus an die Einwohner der Millionenstadt Tscheljabinsk und der umliegenden Dörfer gelangt waren, sehen sich die Mitglieder der Anti-Atom-Bewegung in diesem Sommer wieder als Spione diffamiert. So wurde die Ärztin Gulfarida Galimowa, die am Krankenhaus des 2.500-Einwohner-Dorfes Muslumowo arbeitet, am 5. August von der Mitarbeitern der KGB-Nachfolgeorganisation vorgeladen und verhört. Muslumowo liegt 36 Kilometer von Majak entfernt am Ufer des Flusses Tetscha. Noch 1991 hatte eine Kommission der Moskauer Akademie der Wissenschaften die Tetscha als hoch radioaktiv verseucht bezeichnet. Der Uferschlamm enthält demnach eine hundertmal höhere Strahlung, als normal sei. Wissenschaftler vom Münchner Institut für Strahlenhygiene untersuchten damals Einwohner aus der Tscheljabinsker Region und ermittelten Strahlenwerte, die kaum unter der Dosis liegen, die ein Mensch verkraften kann, ohne sofort zu sterben.

Die Hauptquelle für die Strahlenverseuchung war eine Explosion atomaren Abfalls am 29. September 1957. Mehr als 1.000 Menschen starben sofort, 437.000 Menschen wurden, wie nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems offiziell bekanntgegeben wurde, radioaktiv verseucht, 23.000 Quadratkilometer von der kilometerhohen Strahlenwolke kontaminiert. Auch später gab es immer wieder Nuklearunfälle. Der 1976 ermittelte Ausgangswert der Belastung mit Plutonium war 1993 um 200 Prozent angestiegen.

Den verharmlosenden Ergebnissen von Untersuchungen des Atomministeriums mochte auch die Ärztin Galimowa nicht länger glauben. Sie wollte Blutproben ihrer Patienten mit deren Einverständnis in den USA untersuchen lassen. Wer Blut der Bürger von Muslumowo ins Ausland bringe, handele „gegen die strategischen Interessen des russischen Atomministeriums“, mußte sie sich beim Verhör belehren lassen. Ein Geheimdienstmitarbeiter bezeichnete gegenüber der Zeitung Tscheljabinsker Arbeiter den Versuch, die Blutproben einer US- amerikanischen Besucherin mitzugeben, gar als „unfreundlichen Akt einiger US-Bürger gegen Rußland“ – obwohl es sich die Frau kurz vor ihrem Abflug anders überlegt hatte, und die fünf Geheimdienstleute, die sie am Flughafen Tscheljabinsk filzten, nicht fündig wurden.

Natalja Mironowa hält es für äußerst beunruhigend, daß plötzlich Blutproben zum Staatsgeheimnis erklärt werden, obwohl die russische Verfassung in Artikel 7 festhält: „Informationen über ökologische Gefahren dürfen nicht geheimgehalten werden.“ Den verantwortlichen Personen wird sogar für den Fall der Zuwiderhandlung mit Strafen und Disziplinarverfahren gedroht. Doch was nützt die beste Verfassung, fragt sich Mironowa, solange sich Geheimdienste und das Atomministerium darüber hinwegsetzen können? Bernhard Clasen/Donata Riedel