Von Medien und Dingen

Begriffsschwierigkeiten bei der Annäherung an die Massenmedien. Ein systemtheoretischer Exkurs  ■ Von Dirk Baecker

Nur wenige Begriffe erregen heute die Gemüter theoriewilliger Kultur- und Gesellschaftsbeobachter mehr als „Wirklichkeit“ und „Medien“. Ein Band mit dem Titel „Die Wirklichkeit der Medien“ hat da beste Chancen, auf Neugier und Diskussionsbereitschaft zu stoßen.

„Wirklichkeit“, so wird Gottfried Benn auf einer der ersten Seiten zitiert, ist seit den Griechen „Europas dämonischer Begriff“ – dämonisch wohl deswegen, weil nichts unser Wirklichkeitsvertrauen mehr erschüttert und unser Wirklichkeitsverständnis mehr kennzeichnet als der Umstand, daß, beobachtet man nur andere Beobachter, jede Wirklichkeit als Schein und umgekehrt auch fast jeder Schein als eine Wirklichkeit nachzuweisen sind. Die Wirklichkeit ist genau jene Differenz von Sein und Schein, von der man nicht weiß, auf welcher Seite der Differenz man sie selbst verorten soll: Der Unterschied zwischen Sein und Schein – ist er Sein oder Schein? Auf diese Situation reagieren viele europäische Philosophien, von Platons Höhlengleichnis und Leibniz' Theorie möglicher Welten über Kants Kritik der Vernunft und Hegels Dialektik der Bewegung bis hin zu Husserls Phänomenologie des Bewußtseins und Heideggers Destruktion des Ereignisses der „Lichtung“.

Die Philosophien des 20. Jahrhunderts und insbesondere all das, was unter den Titeln der Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie gehandelt wird, stellen oft nicht viel mehr als eine Konsolidierung dieser Problematik dar. Man verständigt sich darauf, daß wir es in jedem Falle, ob wir etwas als subjektive Meinung oder objektiven Tatbestand, als schönen Schein oder häßliches Sein bezeichnen, mit der Konstruktion von Bedeutung zu tun haben, die kein anderes Material hat als sie selbst. Wir haben es mit Bedeutungskonstruktionen zu tun, die aus Bedeutungskonstruktionen gewonnen werden und in andere Bedeutungskonstruktionen verändert werden können. Das ist die entscheidende Einsicht des Konstruktivismus, die nur in einem einzigen Punkt über die Philosophien Alteuropas hinausgeht. Der Konstruktivismus streicht auch noch den Unterschied zwischen Beobachter und Gegenstand, Subjekt und Objekt. Genauer gesagt: dieser Unterschied wird seines aller Erkenntnis vorausliegenden oder unterliegenden Charakters entkleidet und statt dessen zu einem Zug innerhalb der Erkenntnisbewegung selbst gemacht: Zu einer Ordnungsleistung des Erkenntnisprozesses zwecks Strukturierung des eigenen Vorgehens und zwecks Darstellung der gewonnenen Einsichten. Nur Beobachter können sprechen. Aber hartnäckig versuchen sie, sich herauszuhalten.

Das Licht sehen

Im Konstruktivismus wird der Beobachter, genauer noch: die Beobachtung, die von Beobachtern auf verschiedene Beobachter zugerechnet werden kann, zum Ausgangspunkt erkenntnistheoretischer Überlegungen. An die Stelle des Unterschieds zwischen Subjekt und Objekt, Beobachter und Gegenstand, tritt die Einsicht in die Selbstreferenz der Erkenntnis, d.h. in die Selbstkonstruktion der Beobachtung anhand der von ihr selbst gewonnenen Bedeutungen, zu denen unter anderem auch solche dann problematisch werdenden Unterscheidungen wie die zwischen Subjekt und Objekt gehören. Der Begriff des „Medium“ wäre nun wunderbar geeignet, diese Selbstkonstruktion der Erkenntnis auf die von ihr selbst geschaffenen Voraussetzungen und Bedingungen hin zu beobachten.

In allen Versionen dieses Begriffs, über die wir gegenwärtig verfügen, geht es um Sachlagen, die von der Wahrnehmung, von der Kommunikation oder von der Erkenntnis vorausgesetzt werden müssen, ohne selbst im gleichen Zuge wahrgenommen, kommuniziert oder erkannt werden zu können. Wenn wir akustisch wahrnehmen, nehmen wir das Medium der Luft, das die Schallwellen trägt, nicht mit wahr. Wir hören nicht die Luft, sondern die Uhr ticken. Wenn wir im Medium der Wahrheit oder des Geldes kommunizieren, können wir nicht gleichzeitig die Wahrheit oder das Geld in Frage stellen – es sei denn, wir debattieren über Wissenschaftstheorien oder verhandeln die Konditionen eines Kreditgeschäfts. Wenn wir nachdenken, denken wir nicht gleichzeitig über das Medium der Gedanken und Vorstellungen nach – es sei denn, wir denken über Erkenntnis nach. Wenn wir ein Medium nutzen, so die nahezu einhellige Auffassung von Fritz Heider, Talcott Parsons und Marshall McLuhan, von denen die heute gängigen Medienbegriffe stammen, entgeht uns die Qualität dieses Mediums. Es entgehen uns die Einschränkungen, denen wir unterliegen, wenn wir im Medium der Luft und nicht zum Beispiel im Medium des Wassers hören, wenn wir im Medium der Wahrheit und nicht zum Beispiel im Medium der Macht kommunizieren oder wenn wir im Medium mentaler Vorstellungen denken und nicht zum Beispiel im Medium logisch kontrollierbarer Operationen eines mathematischen Kalküls. Das Medium macht sich unsichtbar und funktioniert um so besser, je besser ihm das gelingt.

Nichts liegt also näher, als im Medium nach Bedingungen von Wirklichkeitskonstruktionen Ausschau zu halten. Aber in welchem Medium tun wir das? In welchem Medium könnten wir das Licht sehen, das es uns ermöglicht, etwas zu sehen? Und sehen wir, wenn wir das Licht sehen, tatsächlich das Medium Licht? Oder sehen wir nicht vielmehr ein bestimmtes „Ding“ mit Hilfe eines anderen Mediums – zum Beispiel mit Hilfe des Mediums optischer Messungen? Auch für Wahrheit oder Macht, mentale Vorstellungen oder logische Operationen gilt, daß wir, wenn wir sie beobachten, „Dinge“ sehen, aber niemals beziehungsweise nur unter schwer zu kontrollierenden Bedingungen „Medien“. Um so wichtiger ist es, einen Medienbegriff zugrunde zu legen, der diese zu kontrollierenden Bedingungen angibt. Und genau hier liegen die Leistungen von Heider und Parsons.

Den Sand treten

Ein Medium der Wahrnehmung, so Heider, ist eine Menge lose gekoppelter Elemente, die in dem Maße für die Aufnahme von Fremdeindrücken geeignet sind, wie sie nicht selbst Eindruck zu machen versuchen. Der Sand, in dem sich ein Fußdruck abzeichnet, wäre ein Beispiel für ein solches Medium. „Dinge“ dagegen sind fest verkoppelte Elemente, die um so dinglicher sind, je weniger sie auf Fremdeindrücke reagieren und je mehr sie ihren eigenen Eindruck aufrechtzuerhalten vermögen. Ein Stein zum Beispiel.

Ein Medium der Kommunikation, so Parsons, ist eine bestimmte Konstellation von Selektivität und Motivation, die Kommunikationen ermöglicht, die andernfalls unwahrscheinlich wären. Wenn wir zum Beispiel im Medium der Wahrheit kommunizieren, so ist damit gesagt: Das spielt selektiv nur in der Wissenschaft eine Rolle, und man wird nur dazu motiviert, sein Erkennen entsprechend zu regulieren, nicht jedoch sein Handeln. Unter diesen Bedingungen kann man sich auf die Einsicht, daß die Erde rund ist, einmal probeweise einlassen. Kommuniziert man dagegen im Medium der Macht, so gilt für die Selektionsbedingungen, daß man politische Unterstützung braucht, politisch gegensteuern kann und nur dazu motiviert werden kann, entsprechend zu handeln, nicht jedoch auch sein Erkennen entsprechend umzustellen (Es sei denn, die Macht nimmt Wahrheit in Anspruch). Das Medium der Macht ermöglicht es also schön tautologisch, daß andere zu einem bestimmten Handeln zu bewegen sind, weil sie sehen, daß dies nur deswegen in ihrem Interesse ist, weil Macht im Spiel ist.

Auch wenn nur Massen- oder Verbreitungsmedien wie Schrift, Buchdruck, Presse, Rundfunk und Fernsehen zum Thema gemacht werden wie in diesem Band über „Die Wirklichkeit der Medien“, kann man gespannt sein, welche Einsichten das Aufeinandertreffen von konstruktivistischem Wirklichkeitsverständnis und Medienbegriffen produziert. Schon die Anwendung der Medienbegriffe auf die tägliche Zeitung und das abendliche Fernsehen hätten Ergebnisse bringen können, die über die gängige Mediendiskussion hinausführen.

Wie selegieren wir und wozu motivieren wir uns im Medium lose gekoppelter Information, Unterhaltung und Werbung? Wie funken Massenmedien hinein in die gesellschaftlich schon länger erprobten Medien der Wahrheit, der Macht, des Glaubens, der Liebe, des Geldes? In welche Schräglage bringen die Massenmedien das gesellschaftliche Selbstverständnis allein dadurch, daß sie schneller sind als alle anderen Medien, näher an ihrer Wirklichkeit operieren als alle anderen Beobachter, über unvergleichliche Selbstkorrekturmöglichkeiten verfügen, extrem schnell vergessen, aber auch sehr leicht gespeichert werden können, Texte mit Bildern und Bilder mit Tönen konterkarieren können und so weiter?

Wenn man die nötige Geduld aufbringt, findet man für alle diese Fragen in diesem von Literatur- und Journalistikwissenschaftlern betreuten und bearbeiteten Band einige Hinweise und Aufschlüsse. Aber sie bleiben spärlich und zufällig. Wahrscheinlich liegt das vor allem daran, daß auf die Erarbeitung und Diskussion, ja sogar auf die Erwähnung der genannten Medienbegriffe durchweg verzichtet wird. Und damit entfällt die Kontrolle der Bedingungen, unter denen man über Medien reden kann. „Medien“ werden in einem Sinne als „Massenmedien“ verstanden, der der allergängigste ist (das Medium als „Instrument“ der „Vermittlung“) und kaum irgendwo überboten wird. Die Massenmedien werden zum Gegenstand der Untersuchung und damit zum Ding. Ein Medienbegriff, der lose Kopplung der beteiligten Elemente, Offenheit für externe Prägung, Selektivität und Nicht- beziehungsweise Kaumwahrnehmbarkeit miteinander verbindet, klingt in einigen wenigen Beiträgen, etwa denen über das Gedächtnis und über die Kulturgeschichte der Medien, an, aber er wird nicht wirklich flottgemacht für eine durchgreifend neuartige Beschreibung der hocheigentümlichen Produktionsform von Information, auf die sich die moderne Gesellschaft eingelassen hat.

Begriffe flottmachen

So sehr man die Intention dieser Einführung, gerade an Medien, also an Massenmedien, die Tauglichkeit eines konstruktivistischen Zugangs zu testen, teilen kann, so sehr vermißt man eine theoretisch kontrollierte Ausarbeitung dieses Zugangs. So ausführlich der konstruktivistische Ansatz immer wieder vorgestellt wird, so folgenlos bleibt er. Er kommt über altbewährte Einsichten der Journalistik in die Dramaturgie der Medienberichterstattung nur selten hinaus und läßt den Konstruktivismus auf eine Kritik der Vorstellung, Medienkommunikation sei gerichtete Kommunikation, habe es mit Botschaften zu tun und sei der letzte uns verbliebene Modus „objektiver“ Berichterstattung, zusammenschrumpfen.

Ertragreich wird der Band nur an den wenigen Stellen, an denen er sich bemüht, das selbst gesetzte Programm der Frage nach den Wirklichkeitskonstruktionen eines Beobachters einzulösen. Dieses Programm ist nur erfüllbar, wenn man sich dazu durchringt, die eigenen Fragestellungen an einem Beobachter, auf den man die beobachteten Beobachtungen zurechnen will, zu orientieren und an diesen Zurechnungen die eigene Vorgehensweise zu kontrollieren. Kurz, das Programm ist nur erfüllbar, wenn man eine Systemreferenz für die eigenen Beschreibungen angibt, wenn man sagt und vor allem weiß, welchen Beobachter man beobachten will.

Genau das jedoch gelingt zu selten. Es gelingt dann, wenn Siegfried J. Schmidt sein Konzept der „Medienangebote“ entfaltet, in dessen Rahmen Zeitungsberichte, Rundfunkkonzerte oder Fernsehsendungen als „Kopplungen“ von Bewußtsein und Kommunikation diskutiert werden können, die auf je eigene und wechselseitig verschlossene Art und Weise ihre Wirklichkeiten konstruieren. Das gelingt auch dann, wenn Bettina Hurrelmann in einem der besten Beiträge das Sackgassenkonzept der „Medienwirkung“ gegen das Konzept der „Mediensozialisation“ auswechselt und sehr behutsam zeigt, von welchen Bedingungen ihrer familiären Umwelt der Medienkonsum von Kindern günstig oder ungünstig beeinflußt werden kann. Nicht das Bewußtsein des Kindes, nicht die versteckten Absichten von Sendeanstalten sind hier die Referenz, auf die zugerechnet wird, sondern „die Familie“: Mutter, Vater und Kind als wie immer vollständige oder fragmentierte Einheit der Beobachtung dessen, was man mit dem Fernsehen machen kann und was das Fernsehen mit einem selbst macht. Auch dann, wenn in dem Beitrag von Siegfried Weischenberg die Redaktion einer Zeitung in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt wird und die redaktionellen Entscheidungsregeln als Selektionsregeln konzipiert werden, wird deutlich, was aus diesem Band hätte werden können, wäre er strenger durchdacht und theoretischer, also spannungsvoller, angelegt. In den Überlegungen von Martin Löffelholz und Klaus-Dieter Altmeppen zur „Kommunikation in der Informationsgesellschaft“ finden sich sogar Andeutungen zur Beschreibung der Veränderung der modernen Gesellschaft durch die Existenz und rasante Evolution der in ihr operierenden Massenmedien.

Der Band taugt allemal als Einführung in ein bestimmtes Konstruktivismusverständnis, und er ist eine Fundgrube für Fragestellungen, die angerissen, aber nicht ausgeführt sind.

Für ein weiterreichendes Verständnis der Diabolik der Wirklichkeitskonstruktion von Massenmedien muß man sich zwar andernorts umsehen, aber man ahnt, was aus einer konstruktivistischen Betrachtungsweise von Medienkommunikation unter Umständen zu gewinnen wäre.

„Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft“, hrsg. von Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und Siegfried Weischenberg. Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, 689 Seiten, 69 DM