„Ich streite jetzt nur noch sehr selten“

■ „Die verlorene Stimme“ von Lyn M. Brown und Carol Gilligan gibt einen Einblick in den Prozeß, der Mädchen von ihrem eigenen Wissen entfremdet

Die eigentliche Arbeit der Psychologinnen beginnt an dem Punkt, als sie ihren standardisierten Fragebogen zur Seite legen. Als sie merken, daß sie den Mädchen einen Einfluß auf die Richtung der Gespräche gewähren müssen, anstatt sie abzufragen. Als sie anfangen, die eigenen Assoziationen und Gefühle zu notieren und ihre Überlegungen mit den Mädchen zu besprechen. Als sie den Fragenkatalog durch einen Leitfaden zum Zuhören ersetzen. Und im genauen Zuhören einiges über das Verstummen von Frauen lernen.

Denn der Scharfsinn der etwa hundert befragten Schülerinnen einer privaten, US-amerikanischen Mädchenschule ist verblüffend. Fünf Jahre lang begleiten die Forscherinnen aus Harvard den Entwicklungsprozeß der Acht- bis Achtzehnjährigen in Gesprächen und Interviews. Sie werden Zeuginnen des wachen Blicks, mit dem die Mädchen die eigene Anpassung an gesellschaftliche Normen und die damit einhergehende Selbstentfremdung beobachten und analysieren. Zentrales Thema der Gespräche sind Konflikte, in denen sich die Mädchen entscheiden mußten, ihr Verhalten entweder nach den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen oder nach externen Normen wie etwa der des allgegenwärtigen Nettseins auszurichten.

Es wird deutlich, daß mit fortschreitendem Alter für die meisten Mädchen letzteres immer mehr handlungsbestimmend wird. Sie selbst registrieren den Drahtseilakt sehr genau. „Ich muß nett sein“, sagt etwa die fünfzehnjährige Neeli, aber sie stellt auch fest: „Die Stimme, die dafür eintritt, woran ich glaube, ist tief in meinem Inneren begraben worden.“ Wie die anderen Mädchen auch, kann Neeli die Strategien, mit der sie dieses Dilemma zu bewältigen versucht, präzise benennen.

„Die verlorene Stimme“ von Lyn M. Brown und Carol Gilligan erlaubt einen ebenso faszinierenden wie schockierenden Einblick in den Prozeß, der die jungen Frauen immer mehr von ihrem eigenen Wissen und ihren Gefühlen entfremdet. Aus Achtjährigen, die zu Hause am Mittagstisch auch mal in die Trillerpfeife blasen, damit die Familie ihnen endlich zuhört, oder der Freundin ins Gesicht sagen, daß ihnen ihr Herumkommandieren auf die Nerven geht, werden Pubertierende, die gelernt haben, sowohl innerhalb ihrer Cliquen und Schulklassen als auch im Umgang mit Autoritätspersonen den Weg des geringsten Widerstands zu gehen und die schließlich ihre Fassaden aus permanenter Freundlichkeit und Rücksichtnahme verinnerlichen.

Die Wissenschaftlerinnen fühlen sich schnell an eigene Verhaltensweisen erinnert: „Das Beziehungswissen der Mädchen legte unsere eigenen Beziehungskompromisse offen und brachte auch die Beziehungslügen zum Vorschein, die so zentral für patriarchale Kultur sind ...“

Leider bleibt das Buch gerade dort, wo eine Verbindung von patriarchalen Strukuren und dem Verhalten der Mädchen hergestellt werden könnte, schwammig. Denn eine entsprechende Kausalität wird zwar wiederholt behauptet, durch die Studie jedoch nicht belegt. Wir erfahren, wie dieser Anpassungsprozeß verläuft, nicht aber, was ihn verursacht. Lediglich auf die Rolle der Mütter und LehrerInnen fällt ein matter Lichtstrahl der Erkenntnis. Letztere stellen im Laufe der Studie selbst fest, daß sie durch ihr ständiges Bestreben, Konflikte zu ersticken, die Mädchen nicht zu offenen und kontroversen Meinungsäußerungen animieren. Und erstere offenbaren vor allem in den Fällen ihre Vorbildfunktion, wo sie selbst den gesellschaftlichen Normen nicht völlig entsprechen und dadurch offenbar auch ihre Töchter zu widerständigem Handeln ermutigen. Wie die Mutter von Naval zum Beispiel, die ungeachtet aller Konventionen an ihrem arabischen Schmuck festhält und schließlich auch ihre skeptische Tochter vom Wert ihres Andersseins überzeugt. Oder die Mutter der Arbeitertochter Anna, die anders als viele andere Mütter die eigenen Gefühle offen zum Ausdruck bringt. Daß Töchter und Mütter, Schülerinnen und Lehrerinnen wechselseitig voneinander lernen können – sofern sie sich richtig zuhören – ist eine der zentralen Aussagen dieses Buches. Wünschenswert wäre eine weitere Studie, die genau diesen gegenseitigen Lernprozeß verfolgt. Sonja Schock