Mehr als ein Forum für Androide

■ Avantgarde-Theater in Deutschland III: „Medientheater“-Projekt Karlsruhe

Wie es sich für ein Haus gehört, das sich ganz und gar den virtuellen, den ungreifbar elektronischen Medien verschrieben hat, sucht der Besucher das angekündigte „Medientheater“ in Karlsruhe vergebens. Noch ist das Medientheater am Zentrum für Kunst- und Medientechnologie (ZKM) ein Ort im Datenstrom, eine Skizze auf dem Videoschirm, eine binär geronnene Fantasie des derzeit ehrgeizigsten Versuchs in Deutschland, Anschluß an die international vernetzte Glitzerwelt der Neuen Medien zu erlangen. Theater gibt es derzeit nur sporadisch, das Medientheater selbst wird 1997 in Betrieb gehen, dann, wenn sich das Gros der Bevölkerung über neue Begriffe wie „Simulation“, „Virtualität“ und „Interaktivität“ nicht mehr die Augen reibt und sich die Frage nach der Bühnenreife, der Inszenierung und Theatralität der „neuen audiovisuellen, computergestützten Medienkünste“ (kurz: der Neuen Medien) weniger verschwommen stellt als heute, wo jedes Kind, aber nur jeder vierte Erwachsene weiß, was Neue Medien überhaupt sind.

Man mag die Neuen Medien als Fortsetzung des Gameboys mit anderen Mitteln bezeichnen, als virtuelles Café globaler Subkulturen, als ein weltweit vernetztes Medienkonzert interaktiv inszenierter Unwirklichkeit. Gleichviel, seit 1989 bildet das ZKM in Karlsruhe die Speerspitze zur Erforschung solch multimedialen Neulands – ein Ort, wo „die Alten von den Jungen lernen“, so jedenfalls glaubt es ZKM- Leiter Heinrich Klotz.

Angefangen hat alles mit der Dokumentation und Recherche zur Neuen Musik und einem Studio zur Akustikforschung. Angeknüpft wurde bei den frühen Pionieren der elektronischen Musik wie Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono. Fast zeitgleich ist ein Institut für Bildmedien hinzugekommen, das sich über die Musik hinaus mit elektronischer Bilderzeugung und mit der Integration aller Zeichensysteme in ein sogenanntes „Hyper“- bzw. Multimedium beschäftigt – eines elektronischen Gesamtkunstwerks, das dem Theater insofern ähnelt, als auch die Bühne alle Einzelkünste von Musik, Sprache, bildender Kunst und Architektur im Idealfall auf sich als „Hypermedium“ vereinigt (sofern das Theater seine eigenen Einzelkünste nicht als Begleitmusik, Regieanweisung, Kulisse und Bühnenplastik pervertiert). Der einzige Unterschied zwischen Theater und Neuen Medien: Die elektronische Simulation ist virtuell, das Theater dagegen, trotz aller Verstellung und aller (oft falschen) Mimesis, real, authentisch und unmittelbar.

Ein Medientheater, das diese Differenz zwischen Medien und Theater produktiv gestalten möchte und mehr sein will als nur ein Ausstellungsort von androiden Darstellern und virtuellen Bildschirmbühnen, könnte im glücklichen Fall die Unversöhnlichkeit von Mimesis und Simulation so deutlich vor Augen führen, wie dies kürzlich der Regisseur Hans- Werner Kroesinger und die bildenden Künstler Olaf Arndt und Rob Moonen in der ZKM-Fabrik zeigten: Die Installation der Künstler war ein schalltoter Raum, eine „Camera silens“. Die Zuschauer wurden, nach Geschlecht getrennt, in zwei verschiedene, an die „Camera silens“ angrenzende grellweiße Räume geführt. Kroesingers Thema: die Isolationshaft, die in Stammheim zur perfiden Perfektion getrieben wurde.

Einen Kontakt der Bühne zur Außenwelt gibt es nicht. Die Zuschauer sind Teilnehmer ihrer eigenen Überwachung. Die in den schalltoten Raum eingeschlossene Frau läßt sich nur medial per Monitor erleben. Auf zwei weiteren Monitoren werden Geschichte und Argumente gegen die Isolationsfolter vorgeführt, daneben wandert auf Video ein Tiger in einem fünf mal fünf Meter kleinen Käfig auf und ab. Lautsprecher brüllen Anweisungen – in einer multimedialen Präsentation, in der das Publikum dennoch die Tortur der Isolation als durchaus mimetisch erlebt: Unweigerlich träumt sich der Betrachter in die Lage des Opfers und erlebt die realen Mitmenschen in der eigenen Zelle als imaginäre Schutzhäftlinge und weiß um die reale Anwesenheit der eingesperrten Frau im Nebenraum.

Isolationshaft als Alptraum aus Unmittelbarkeit und medial distanzloser Distanz. Als Kunstform eines der ersten „Medientheater“, das diesen neuen Begriff verdient.

Trotz Rumoren der Führungsetage im ZKM gegen den politischen Anspruch der Performance: Wenn sie tatsächlich von den Jungen lernen will, kann kein offenbar noch immer politisches Tabu der Isolationsfolter Maßstab für das neue Medientheater werden. Im Gegenteil: Prüfstein kann derzeit nur das Gelingen einer Verknüpfung sein, vielleicht sogar das einer Versöhnung von Theater und Medien. Zu lange schon stehen sich beide Formen der inszenierten und der virtuellen Realität, der elektronischen und der darstellenden Künste, ahnungslos und ignorant gegenüber. Computerfreaks halten das Theater für überholt, Theaterleute sehen in den Neuen Medien kaum weniger als ein Indiz des Weltuntergangs. Über ihre gemeinsame strukturelle Ähnlichkeit und über mögliche künstlerische Anknüpfungspunkte wird das ZKM ab 1997 strategisch nachdenken – sofern bis dahin der Begriff „Medientheater“ nicht wieder zur leeren Vokabel verkümmert. Arnd Wesemann