Italiens schwarzer Boom

Berlusconis „Aufschwung“ basiert auf Schwarzarbeit, Schwarzbauten und schwarzen Kassen / Angeblich steigende Beschäftigungszahlen nicht durch Statistik belegt  ■ Aus Rom Werner Raith

In der Migliara 57 bei San Vito, einem eher heruntergekommenen Dorf im südlichen Latium, ist „der Boom so deutlich mit den Händen zu greifen“, sagt Carlo Censaro von der Berlusconi-Formation Forza Italia, „daß man sich nur noch wundern kann, wie diese Fernseh- und Zeitungsfritzen immer vom mangelnden Erfolg der Regierung faseln können.“

Tatsächlich scheinen hier die fünfziger und sechziger Jahre zurückgekehrt zu sein. Auf nahezu jedem Grundstück wird irgend etwas gebaut, angestückelt, werden neue Ställe oder Werkstätten hochgezogen. Reist man die tyrrhenische Küste hinunter, überall dasselbe Bild, sei es in der Gegend von Neapel, sei es in Kalabrien, aber auch im Landesinnern, sogar im eher unwirtlichen Gran-Sasso- Massiv: ein Bauboom, als gelte es, Millionen Familien ein Dach über dem Kopf zu verschaffen und überbordende Produktionsorders zu befriedigen.

Merkwürdig jedoch: Fragt man bei den Gewerbeämtern und den statistischen Büros der Provinzen nach, merkt man davon ebensowenig, wie die Steuerstellen des Staates etwas von der neuen wieseligen Aktivität vermelden. Tatsächlich fällt bei den eifrigen Häusle-, Stall- und Werkstattbauern auch etwas Merkwürdiges auf: Nahezu nirgends ist das obligatorische Bauschild zu sehen, das laut Gesetz den Bauherrn, das Objekt und die Aktennummer der Genehmigung mitteilen muß.

Zwei Vigili urbani, vordem gefürchteten kommunale Ordnungshüter, die bei Verdacht von illegalen Bauten sofort ein Siegel anbrachten und Anzeige erstatteten, stehen gelangweilt vor einem Neubaufundament. „Was sollen wir da einschreiten? Berlusconi hat für alle, die wir angezeigt haben, eine Amnestie verkündet, und die Leute bauen jetzt wie wild drauflos, in der Sicherheit, daß ihnen auch künftig nix passieren wird.“

Viele Schwarzbauer wissen noch nicht einmal, was sie da errichten wollen. Doch sobald irgendein Fundament hingeknallt worden ist, kann man das Grundstück per Amnestie als „bebaut“ melden, was für spätere Zeiten den Anspruch auf eine Genehmigung eröffnet.

Einen „geradezu katastrophalen Effekt, einen Schlußverkauf der letzten freien Flächen“ sieht die Umweltschutzbewegung „Lega per l'ambiente“ durch die verschiedenen Dekrete von Ministerpräsident Silvio Berlusconi heraufbeschworen: Da ist nicht nur die Amnestie, die mehr als acht Millionen illegale Bauten – von der Mauer um den VIP-Garten am Meer bis zum Industriekomplex – legalisiert, meist ohne jedwede statische Überprüfung lebensbedrohlich gebaut.

Da ist auch eine neue Verwaltungsverordnung, die bei mangelnder Antwort auf einen Antrag binnen drei Monaten den „stillschweigenden Konsens“ unterstellt – eine Einladung zum Schwarzbauen, wie die Lega per l'ambiente meint. Dabei wäre die Sache insofern sinnvoll, als in Italien Genehmigungen in der Regel mehrere Jahre dauern und eine Beschleunigung dringend angeraten sein müßte – nur „muß man dann eben auch Strafen für Beamte vorsehen, die bei offenkundigen Gesetzesverstößen die Genehmigung durch Stillschweigen erteilt haben“, wie die Umweltschützer murren – doch genau das kommt in dem Regierungsdekret nicht vor.

Kein Wunder: Zu den größten Bauunternehmern des Landes gehört auch Silvio Berlusconi.

Nicht nur in Sachen Bau-Legalität erweist sich der angebliche Boom, auf den Berlusconis Leute so eifrig verweisen, als recht merkwürdige Angelegenheit: Nicht nur die Gewerbesteuer bleibt aus, auch die Lohnsteuerstellen melden keinerlei Zunahme an Einkünften. Berlusconi und seine Minister haben „derart viel Verständnis für eine angeblich notwendige Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse gezeigt“, beschwert sich der Leiter der Steuerstelle von Latina, „daß man sich nicht wundern muß, wenn nun überhaupt keine Regeln mehr gelten und die Unternehmer die ansonsten vorgeschriebene Anmeldung neuer Mitarbeiter unterlassen“. Berlusconis Arbeitsminister Mastella, der bisher vor allem durch die Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung gegen die neue italienische Regierung aufgefallen ist, gibt diesbezüglich „geradezu empörende Sätze“ von sich, wie ein Gewerkschaftsflugblatt berichtet: „Der sagt, ohne rot zu werden, daß ihm ein Schwarzarbeiter immer noch lieber ist als ein Tagedieb oder ein Arbeitsloser.“ Daß die illegalen Arbeitskräfte weder Versicherungs- noch Kündigungsschutz genießen und „sehr oft bei hochgefährlichen Bauten oder Tätigkeiten eingesetzt werden, scheint den Arbeitsminister überhaupt nicht zu kümmern“.

Mehr als zwei Millionen nicht angemeldete ArbeiterInnen gab es nach den Gewerkschaftsdachverbänden schon vor Berlusconi. „Jetzt haben sie mit Sicherheit schon die Dreimillionengrenze erreicht“, so ein Gewerkschaftssprecher, „doch nicht, indem da etwa neue Plätze geschaffen worden wären. Im Gegenteil, die Unternehmer haben ihre Leute zu Tausenden entlassen – und ihnen angeboten, sie schwarz weiterzubeschäftigen.“ Bezahlt wird aus schwarzen Kassen. „Die sind, wo die Staatsanwälte nicht zugegriffen haben, noch immer proppevoll“, weiß ein Ermittlungsbeamter in Mailand.

Berlusconi jedenfalls geht stolz mit angeblich „steigender Beschäftigung“ hausieren – wobei er freilich nicht mit offiziellen Statistiken aufwarten kann, denn die melden weiterhin Abnahmen. „Wir bereinigen eben die Zahlen“, gibt ein hoher Beamter des Arbeitsministeriums unterderhand zu, „indem wir diejenigen, die zwar arbeitslos gemeldet sind, von denen wir aber den Eindruck haben, daß sie doch irgendwo arbeiten, aus der Statistik entfernen.“

Und woher bekommen die Statistiker diesen „Eindruck“? „Na ja, wer selbst eine Stelle kündigt, hat meist anderswo eine bessere ...“ Will heißen, daß, wer kündigt, einfach nicht mehr als arbeitslos gilt. „Auch Mütter, die vorher gearbeitet haben, sind ja gar keine echten Arbeitslosen“, sagt er, auch die hat man nun offenbar aus der Statistik getilgt.

Ein Boom also, der zwar quirlige Aktivität zeigt, aber noch wesentlich mehr Schäden anrichtet als das bisher schon vorhandene Chaos – und nicht nur der Steuerhinterziehung wegen. Schon der einfache Ordnungshüter in San Vito rechnet das vor: „Da draußen vor dem Dorf, wo nur saure Wiesen sind und keinerlei Erschließung, haben wir heute morgen drei neue Rohbauten vorgefunden – wenn die mit der Amnestie legalisiert werden, muß die Gemeinde die Straße dorthin bauen, die Lichtleitung legen, für die Abwasserbeseitigung sorgen, möglicherweise auch noch einen Bach, der da vorbeiläuft, regulieren ...“ Und das alles, ohne daß daraus eine Lira in die Staatskassen fließt.

Schwarzbauten haben Italiens Umweltschützer schon vor zwei Jahrzehnten als „größte Umweltgefahr für unser Land“ ausgemacht, noch weit vor Industrieanlagen und Atomkraft. Wer aus Deutschland, Frankreich oder der Schweiz in Italien einfliegt, sieht es von oben: Wo andere Länder eine klare Abgrenzung zwischen bebautem Gebiet und Fluren, Wiesen, Wäldern einhalten, sieht in Italien alles so aus, als habe man mit der Streusandbüchse von oben Häuser regellos in die Gegend geschüttet. Sieht man von den aus dem Mittelalter überkommenen eng zusammengekuschelten Dörfern und Städten ab, ist keinerlei Struktur zu erkennen, ist schon aus der großen Entfernung leicht abzuschätzen, wie teuer und unökonomisch das alles sein mag.

„Und genau das will Berlusconi nun zur Vervollkommnung bringen“, sagt der Nestor der italienischen Umweltschützer, Antonio Cederna. Dem Regierungschef ist das offenbar gleichgültig, oder vielmehr: „Genauso will er es“, klagt Cederna. „Er hat einen Scheinboom losgetreten, der seine Geschäfte und seine Freunde auf die Schnelle befriedigt – und was danach kommt, na ja, die Sache mit der Sintflut, die kennt man ja.“