Nörgler und Durchblicker

■ Ein Heiligtum der bürgerlichen Öffentlichkeit: Leserbriefseiten im Vergleich

Zeitungen, welcher politischen Richtung auch immer, sind Medien einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Das ist in dem Maße deutlich geworden, wie ihnen Konkurrenz von Seiten der sogenannten „neuen Medien“ erwachsen ist, deren Kommunikationsstruktur einer anderen, jedenfalls nicht mehr bürgerlichen Öffentlichkeit entspricht. Es ist soziologisch noch kaum begriffen, weshalb sich der Dudelfunk mit seinen Phone-in- shows so flächendeckend durchsetzt und warum das Fernsehen in der Talkshow vom Format „Schreinemakers“ seine wahre Bestimmung gefunden hat.

Tatsächlich ist es unübersehbar: die elektronischen Medien werden von ihrem Publikum erobert. Ein alter Traum der kritischen Medientheorie erfüllt sich vor den Augen leicht angewiderter Kritiker: Die Leute wollen nicht länger zugucken, sie wollen, daß die Kameras und Mikrophone sich auf sie richten, und sie haben jetzt mehr zu bestellen als „Grüße an Tante Ilse und alle, die mich kennen“. Sie erzählen von ihren Krankheiten, Begabungen und sexuellen Vorlieben. Das ist schrecklich prolo, aber alle schalten ein, und ab und zu schreibt Botho Strauß einen Spiegel-Essay, in dem er das Ganze eine „Kloake“ nennt.

Aber zurück zum gedruckten Wort. Man muß den Satz, Zeitungen und Zeitschriften seien notwendig „bürgerliche Medien“, gar nicht umständlich begründen. Es genügt der Blick auf eines ihrer wichtigsten und zugleich unterschätztesten Elemente – die Leserbriefseite. Zu ihr haben die neuen Medien – allen „Offenen Kanälen“ zum Trotz – keine Entsprechung. Die Leserbriefseite ist ein Atavismus, der die Zeitung unverkennbar als Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts ausweist. Sie ist die Schnittstelle, die Produzenten und Konsumenten miteinander verkoppelt. Sie ist der symbolische Raum einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Habermasschen Sinne, ein Ort öffentlichen Räsonnements, und dabei kann dieser Begriff bekanntlich sowohl Berufung auf die Vernunft als auch ihre Herabsetzung zur Nörgelei bedeuten.

Bürgerlich ist dieser Raum auch wegen des Ideals zu nennen, das alle hier getanen Äußerungen bestimmt: Autorschaft. Die Leserbriefseite ist ein Heiligtum der bürgerlichen Öffentlichkeit, weil sie darauf verweist, daß jeder ein Autor sein kann. Utopie der Leserbriefseite: das Verhältnis von Autor und Leser ist reversibel.

In der FAZ liest sich das etwa so: „Hätte Fontane mit seiner bekannten Genauigkeit Hohenfinow beschrieben, so wären in dem Artikel ,Fontane mied den Ort‘ (FAZ vom 4.7.) verschiedene Unrichtigkeiten vermieden worden. Unter Herrn von Vernezobre wurde das Schloß, das im übrigen immer Schloß Hohenfinow und nie Schloß Hollweg hieß, nicht um friderizianische Nebengebäude erweitert. Das von ihnen abgebildete Gebäude, die Saatzucht, wurde wie auch das Palmenhaus (...) von dem letzten Besitzer, Felix von Bethmann-Hollweg, Anfang der dreißiger Jahre erbaut. Isabella von Bethmann-Hollweg, Berlin.“

Bei den „Briefen an die Herausgeber“ herrscht oft eine Atmosphäre wie beim Captain's Dinner. Der typische Leserbrief in der FAZ ist aber die irgendwie lateinlehrerhafte, zugleich pedantische und gönnerhafte Berichtigung oder Ergänzung: „Das Porträt [...] über General Helmut Willmann läßt mich einen großen Bogen schlagen. Sie berichten, daß der General nicht der Typ für Fisimatenten und Intrigen sei. Der Begriff Fisimatenten kommt aus der Zeit der Napoleonischen Besetzung des Rheinlandes. Zu dieser Zeit sollen französische Soldaten Kölner Bürgerstöchter mit den Worten angesprochen haben: ,Visitez ma tente.‘ General Willmann und die deutschen Soldaten des Euro-Korps werden sicherlich während der Parade auf den Champs-Elysées keine Zeit gehabt haben, die Marie-Claires und Jacquelines am Rande aufzufordern, sie zu besuchen. Philipp Graf von Walderdorff, Bonn.“

Auf den Leserbriefseiten des Spiegel bietet sich wöchentlich der Einblick in die Abgründe der Angestelltenseele, mithin in ziemlich düstere Regionen, in denen nach jahrelanger Spiegel-Lektüre auch das letzte Lichtlein der Hoffnung auf bessere Zeiten erloschen ist: „Der Mangel an Verzicht und die erbarmungslose Gier nach äußerlicher Schönheit, verbunden mit der Fassade des ,Gutdraufseins‘, offenbaren doch nur die jämmerliche Oberflächlichkeit, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Braunschweig, Andreas Horn.“ Oder: „Die politische Diskussionskultur hat in der Bundesrepublik einen einmaligen Tiefstand erreicht, der nichts Gutes erwarten läßt. Nürnberg, Markus Katzenmeier.“ Oder gar: „Der Flurschaden im psychosozialen Bereich ist mindestens so bedrohlich wie die Umweltzerstörung. Stuttgart, Ruth Martin.“

Und woher, liebe Leser, stammen wohl folgende Fundstellen: „Und die planvolle Methode, mit der der Sozialstaat hierzulande demontiert wird, dürfte ebenso unverhüllt zeigen, daß die sogenannte soziale Marktwirtschaft nichts anderes war als eine geschickte Strategie, um die menschliche Alternative zu bekämpfen, die der Sozialismus ... Ludwig Schönebach, Bremen.“ Oder: „Die Opfer an den unsichtbaren strukturellen Mauern des Kapitalismus werden weggeblendet und von öffentlichen Plätzen tunlichst entfernt. [...] Pablo Atheke, Berlin.“ Wo weiß man wohl so gut Bescheid darüber, was falsch läuft und wieso? – Natürlich in der taz, deren geschätztes Publikum, liebe Leser, sich leider gerne in seinen Briefen eines durchblickerhaft-klassenprimusartigen Tonfalls befleißigt, der nicht gerade auf große Neugier schließen läßt. – Jetzt sagen Sie bloß, das falle auf die Redaktion zurück. Ach was! Jörg Lau