Spurensuche im Gestrüpp wilder Phantasien

■ Knapp zwei Jahre nach Prozeßbeginn scheint im Montessori-Prozeß von Münster um den sexuellen Mißbrauch von Kindern wieder alles offen / Angeklagter frei

Münster (taz) – „Ich kann es mir nicht vorstellen, aber es hat dies gegeben, weil ich den Kindern glaube.“ Mit dieser Bewertung stand die Erzieherin im Coesfelder Montessori-Kinderhaus, Irene H., zum Prozeßbeginn nicht allein. Glaubte man der Staatsanwaltschaft zum Prozeßauftakt, dann hatte sich der Angeklagte und ehemalige Kollege von H., Rainer Möllers, in geradezu monströsem Ausmaß des Kindesmißbrauches schuldig gemacht. Mindestens 54 Mädchen und Jungen im Alter zwischen fünf und sieben Jahren, so die ursprüngliche Anklage, soll Möllers während seiner Zeit als Erzieher in Montessori-Kinderhäusern in Coesfeld und Borken drangsaliert haben. Laut Anklage penetrierte der heute 35jährige Möllers Jungen und Mädchen in allen Variationen, er ejakulierte und urinierte in Kindermünder, mischte Exkremente mit Schokolade und zwang die Kinder, mit Löffeln davon zu essen. Mit Drohungen soll er die Kinder zum Schweigen gebracht haben. Wer rede, „bekomme von Soldaten des Bundeskanzlers den Kopf abgeschlagen“, dessen Eltern würden „totgezaubert“ oder von Krokodilen gefressen.

Das Neue an diesem Verfahren: der Umfang der Anklage. Mit Massenbeschuldigungen dieser Art bewegt sich das Gericht auf wenig abgesichertem Gelände. Wie glaubwürdig sind Beschuldigungen durch Kinder im Vorschulalter, deren Ausagen in einem komplizierten Beziehungsgeflecht von staatlichen Ermittlern, Eltern, Therapeuten, Erziehern und Mitarbeitern von Mißbrauchsberatungsstellen wie „Zartbitter“ entstanden sind? Mangels anderer Beweismittel hängt der Prozeßausgang entscheidend von der Beantwortung dieser Frage ab. Der eher schüchterne, unauffällige Angeklagte beteuert seine Unschuld: „Nichts, aber auch gar nichts habe ich damit zu tun.“ Folgt man ihm und seinen Verteidigern, dann entspringen alle Kinderaussagen allein der durch Suggestivbefragung auf Trab gebrachten kindlichen Phantasie. Ein unvorstellbarer Gedanke für die betroffenen Eltern. Sie sind von der Schuld des Angeklagten seit langem überzeugt. Schon ein halbes Jahr vor Prozeßbeginn schrieben sie dem Düsseldorfer Innenminister Herbert Schnoor einen Brief, in dem es hieß, „daß ein im Kinderhaus angestellter Erzieher beinahe alle Kinder, auch solche, die lediglich zu Besuch waren, sexuell sadistisch mißhandelt hat.“

Seit dem 13. November 1992 bemüht sich die erste große Strafkammer des Münsteraner Landgerichts unter dem Vorsitzenden Klaus-Dieter Walden nun schon um die Aufklärung des Komplexes. Im April dieses Jahres schien das Ende nah. Am 26. April plädierte die Staatsanwaltschaft – inzwischen war die Anklage auf 26 Fälle geschmolzen – und beantragte die Höchststrafe: 10 Jahre Freiheitsentzug. Doch dann trat das Gericht auf Antrag der Verteidigung erneut in die Beweisaufnahme ein. Am 9. Mai beantragten die Verteidiger die Aufhebung des Haftbefehls. Das Gericht lehnt den Antrag mit der Begründung, es bestehe weiter „dringender Tatverdacht“, ab. Am 24. Mai hört das Gericht den von der Verteidigung benannten Sachverständigen Prof. Udo Undeutsch. Der 76jährige Psychologe äußert sich nicht zur Glaubwürdigkeit der einzelnen Kinderaussagen, sondern generell zur Vernehmungsmethodik von Kindern in Mammutverfahren. Er spricht von der „Wucht suggestiver Einflüsse“ durch die in diesem Komplex eingesetzte Befragungstechnik und zieht die Glaubwürdigkeit der so gewonnenen Aussagen in Zweifel.

Von zwei zuvor im Gericht gehörten Sachverständigen, auf sie stützt sich die Staatsanwaltschaft, liegen dagegen völlig gegensätzliche Beurteilungen zur Glaubwürdigkeitsfrage vor. Wichtig ist vor allem die Expertise der seit langem als Gutachterin tätigen Psychologin Ursula Kück (57). Auch sie spricht von einer „starken Suggestivwirkung“ im Verlauf des Verfahrens. Gleichwohl hält sie die Kinderaussagen während der ersten Phase der Befragung für glaubwürdig. Die späteren, immer phantastischeren Beschuldigungen hält sie für Produkte der Vorgaben der Erwachsenenwelt. Eine Unterscheidung, deren Zulässigkeit das Gericht bezweifelt. Sie hebt den Haftbefehl gegen Möllers deshalb auf. Gestern wurde die Kammer vom neu hinzugezogenen Sachverständigen Prof. Oskar Scholz in ihrer Auffassung bestärkt. Auch er hält die Trennung der Psychologin Krück für „außerordentlich problematisch“, sieht die Aussagen durch den Entstehungsverlauf „verfärbt“.

Inzwischen wurde der Sachverständige Undeutsch auf Antrag der Staatsanwaltschaft wegen Befangenheit vom Verfahren ausgeschlossen. Undeutsch hat im Gerichtssaal bei seinem ersten Auftritt seine intensive Aktenkenntnis trotz Nachfrage verschwiegen.

Anfang August mußte Möllers wieder in den Knast. Der vierte Senat der Oberlandesgerichtes in Hamm hob die Haftverschonung als letzte Instanz auf Antrag der Staatsanwaltschaft wieder auf – zum dritten Mal. Die Münsteraner Strafkammer habe „keine nachvollziehbare Begründung“ für die Freilassung geliefert. An der Beweislage habe sich seit dem 9. Mai „nichts geändert“, weil die Aussagen von Prof. Undeutsch wegen dessen Befangenheit „überhaupt nicht verwertbar sind“, so ein OLG-Sprecher.

Doch in der vergangenen Woche schlug die Strafkammer zurück. Weil Möllers sogar „Aussicht auf einen Freispruch habe“, laufe die Kammer in Gefahr, sich der „Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung“ schuldig zu machen, wenn sie dem OLG folge. Seither ist Möllers wieder frei – Ende offen. Walter Jakobs