■ Die demokratischen Gesellschaften wollen nicht mehr
: Lust und Last der Intervention

Die militärische Intervention im Ausland kommt wieder in Mode. Die USA haben sich gerade einen Freibrief der Vereinten Nationen für den Eingriff in Haiti geben lassen. Die Nato baut Krisenreaktionskräfte auf, mit denen sie überall und jederzeit auf der Welt militärisch eingreifen kann. Mit ihren Ultimaten in Sarajevo und Goražde im Frühjahr hatte sie schon zwei kleine Trockenübungen veranstaltet. Wer weiß, ob die Nato nicht doch noch in Bosnien-Herzegowina einmarschiert, wenn die Serben nicht endlich parieren. Jedenfalls klang der amerikanische Verteidigungsminister Perry so, als er neulich in Zagreb war.

Ganz sicher war er seiner Sache freilich nicht. Sein Präsident hat amerikanische Bodentruppen in Bosnien immer abgelehnt. Amerikanische Schiffe haben vor Haiti abgedreht, als ein paar gewaltbereite Rowdies auf der Pier erschienen. Die Aktion in Somalia hat Präsident Clinton abgebrochen, als dort 18 amerikanische Soldaten zu Tode gekommen waren. Das sind für inneramerikanische Verhältnisse, wo alle Viertelstunde ein Mensch erschossen wird, gar nicht viele, aber es waren für eine Auslandsaktion 18 zuviel. Die Lust der Staatsmänner an der Intervention wird also erheblich gemindert durch die Last, sie und ihre Kosten „zu Hause“ zu erklären.

Nur noch Papiertiger

Nicht nur in den USA. Dort wirkt das Vietnam-Trauma noch immer so stark nach, daß jede außenpolitische Gewaltmaßnahme der Regierung innenpolitisch das Amt kosten kann. Aber auch die Sowjets wußten das. Sie marschierten zwar in Afghanistan ein, hielten aber ihre Truppen in sicheren Schutzzonen unter Verschluß. In gewisser Weise sind die Großmächte zu Papiertigern geworden. Sie können kleinere Gegner zwar mit der übergroßen Gewalt ihrer Waffenarsenale bedrohen, aber nicht mehr einschüchtern. In Pale wie in Port-au-Prince wissen die Serben wie die haitianischen Generäle, daß die Großmächte zwar noch bellen, kaum mehr aber beißen können.

Das ist übrigens gar nicht neu. Die Gesellschaften haben den Krieg schon immer als Vergnügen der Könige bezeichnet und kritisiert, so nicht zuletzt der große Philosoph Imanuel Kant. Daß die Soldaten fröhlich singend in den Ersten Weltkrieg gezogen sein sollen, war stets eine Mär der herrschenden Propaganda. Die Lieder des Volkes wußten es besser: Es mußte auf mannigfache Weise zum Kriegsdienst gezwungen werden.

Auch heute ist die Lust an der Intervention den Mächtigen nicht vergangen. Sie versuchen ja gerade wieder, deren Notwendigkeit ihren Gesellschaften zu verkaufen. In Haiti soll die Demokratie, in Bosnien der Friede wiederhergestellt werden. Den Deutschen wird das Interventionsrecht der Bundeswehr, das vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. Juli zwar nicht direkt, aber indirekt abgestützt worden ist, als Preis für die internationale Anerkennung und Gleichberechtigung der Bundesrepublik verkauft.

Nichts geht mehr

Aber – und das ist der Unterschied zu früher – es gelingt nicht mehr. Die Gesellschaften sind heute viel zu gut informiert, um solchen Verkaufsargumenten aufzusitzen. Sie verfügen als Demokratien über die Macht, den Regierungen die Lust an der Intervention abzugewöhnen. Die amerikanischen Militärs kennen die Macht der amerikanischen Gesellschaft; sie wollen nur noch dort intervenieren, wo sie diese Gesellschaft hinter sich wissen. Sie haben auch, übrigens, selbst keine Lust mehr, auf dem Felde der Ehre – so hieß es früher – ihr Leben zu verlieren. Sie wollen viel Geld für die modernste Rüstung, aber sie wollen sie keineswegs einsetzen. Das ist auch gar nicht mehr nötig. Da der technische Fortschritt schnell voranschreitet, müssen die Waffen ständig erneuert, brauchen nicht mehr im Krieg konsumiert zu werden.

Den modernen, hochentwickelten Gesellschaften mit ihrem Lebens- und Bildungsstandard will es einfach nicht in den Kopf, daß sich eine Regierung heutzutage noch das Recht nimmt, ihre Söhne um irgendeines außenpolitischen Zieles willen in den Tod zu schicken. Darin liegt gewiß auch eine Geringschätzung der Außenpolitik (worin, nebenbei bemerkt, der britische Historiker Toynbee einen historischen Fortschritt erkannte). Vor allem aber meldet sich darin Kritik an einer Politik, die alle rechtzeitigen Einwirkungsmöglichkeiten schleifen läßt und diesen Fehler dann mit dem Militär, also mit dem Leben unbeteiligter Soldaten, korrigieren will.

Vielleicht sind wir wirklich auf dem Weg, den Krieg als Instrument der Politik zu vergessen. Der Sklaverei ist es ja auch so gegangen. Sie war ein soziales Institut, das ihrerzeit viele für gottgegeben und unabänderlich hielten. Doch heute ist sie in allen entwickelten Gesellschaften undenkbar. So kann es auch der außenpolitischen Gewalt ergehen. Als Verteidigung bleibt sie, sozusagen als Restposten, akzeptiert. In allen anderen Fällen aber wird sie abgelehnt, und zwar je stärker, je entwickelter und fortgeschrittener die Gesellschaften sind. Das Ansehen des Krieges – so kann man Lichtenbergs berühmtes dictum abwandeln – ist umgekehrt proportional zur Kulturhöhe eines Volkes.

Von zwei Seiten also kommt die militärische Intervention unter politischen Beschuß. Einmal von der Erfolgsbilanz. Sie enthält von Vietnam bis Afghanistan, von Panama bis Somalia nur katastrophale Fehlanzeigen. Der Golfkrieg war ein Erfolg, das muß man festhalten, aber nur bis zur Befreiung Kuwaits. Seit sie in die Intervention im Irak umschlug, erscheinen Minuszeichen an der Wandtafel. Der Politik militärischer Interventionen ist das Substrat entglitten, die gesellschaftlich-politische Struktur. Einen König konnte man, indem man seine Hauptstadt einnahm, zur Kapitulation zwingen. Bei einer Gesellschaft versagt diese Strategie.

Prävention ist nötig

Den entscheidenden Schlag gegen die Intervention aber führt die eigene Gesellschaft. Sie will kein einziges kostbares Menschenleben mehr dafür hergeben, daß einigen Politikern immer nur Kanonenbootdiplomatie einfällt. Sie verlangt von der Regierung, der Gewalt mit politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen rechtzeitig vorzubeugen, statt sie, wenn es zu spät ist, mit dem eigenen Militär noch zu verstärken. Was inzwischen sogar der Sicherheitsrat und der Generalsekretär der Vereinten Nationen wissen, nämlich, daß für Demokraten die Vorbeugung, die Prävention, die einzig angemessene Strategie ist, sollte zum Leitthema der gesamten westlichen Außenpolitik werden.

Konsequenzen daraus könnten schon jetzt gezogen werden. Die Parlamente, Repräsentanten der jeweiligen Gesellschaft, müßten ihre Budgethoheit dazu benutzen, die Intervention zu unterbinden. Bisher gibt es ein stillschweigendes Einverständnis zwischen Legislative und Exekutive, Interventionsstreitkräfte zwar aufzustellen, aber nicht einzusetzen. Die Bundesregierung in Bonn hat versprochen, die „Kultur der Zurückhaltung“ weiterzuführen. Das ist richtig und begrüßenswert. Wozu braucht sie dann aber eigentlich noch die Haushaltsmittel für die Intervention? Warum sollen wir etwas finanzieren, was wir weder sinnvoll einsetzen können noch einsetzen wollen? Ernst-Otto Czempiel

Politikwissenschaftler, Leiter des Hessischen Instituts für Friedens- und Konfliktforschung